Valentine
»Ist nicht so schlimm. Ich bin nur ein bisschen angespannt. Zuhause gibt’s ein paar Probleme.« Sie lächelte, aber es wirkte erzwungen. »Ich will jetzt nicht darüber reden. Ich bin bei dir, nur das zählt.«
Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn mit sich. »Warst du schon mal da drin?«
Maurice deutete auf die Fassade der Dombibliothek, vor der ein Container mit Schutt stand. Das Erdbeben hatte auch hier seine Spuren hinterlassen und einen Teil des Daches abgedeckt, das nun provisorisch mit Planen geschützt war. »Da? Nein. Was sollte ich dort?«
Ohne zu antworten , ging sie voraus und legte ihre Hand flach auf die Eingangstür, die sich daraufhin geräuschlos und wie von Geisterhand öffnete.
»Wie hast du das gemacht?«, flüsterte er, als könnte sie jemand hören. »Bist du ganz nebenbei gelernte Einbrecherin?« Er stellte sich vor, dass sie ein Einbrecherdiplom gemacht hatte , und grinste.
»Schnell!« Valentine winkte ihm einzutreten.
Obwohl drinnen vor Dunkelheit kaum etwas zu erkennen war, bewegte sie sich zielgenau auf eine Treppe zu und dann die Stufen hinauf, und ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu vertrauen. Sein Herz schlug wie ein Trommelwirbel , und es war nicht klar, ob es ausschließlich Valentines Nähe zuzuschreiben war oder auch der Tatsache, dass sie hier von Rechts wegen Einbruch begingen.
Dann flackerten plötzlich einige Lampen auf , und Maurice sah sich einem gigantischen Bücherregal gegenüber. Alte Folianten standen in Reih und Glied sorgfältig geordnet hinter Glastüren. Dünne und dicke, in den verschiedensten Formaten, die Einbände aus Pergament, Leinen oder Leder, in verschiedenen Farben, die Titel farblos geprägt oder in Golddruck. A llein d ie M enge war beeindruckend.
»Wow. Ich hatte keine Ahnung, was hier gebunkert wird.«
Er schaute um sich, ob sich irgendwo Fenster befanden, durch die man von der Straße aus das Licht sehen konnte . Aber der Raum schien sich im Inneren des Gebäudes zu befinden, oder die Fenster waren von Regalen zugestellt, denn rundum waren nur ein e s zu sehen: Bücher, Bücher und noch mehr Bücher.
Als würde sie Nacht für Nacht nichts anderes machen, justierte Valentine die verschiebbare Leiter, die in einer am Regal befestigten Schiene entlang glitt, an einer bestimmten Stelle und stieg die Stufen hinauf. Mit sicherem Griff holte sie einen großformatigen dicken Lederband aus der oberen Etage, trug ihn zu einem Lesepult und schlug ihn etwa in der Mitte auf.
»Hier«, sagte sie und deutete auf eine Seite, die eine glutrote geschwungene Initiale zierte.
Maurice beugte sich über das Buch. Verdammt, was dort stand , war für ihn fast so unlesbar wie chinesische Buchstaben. Zweifelsohne war dieses Buch mit viel Mühe von Hand geschrieben und illustriert worden, zu einer Zeit, da diese Aufgabe hauptsächlich Klöstern vorbehalten war. Akkurat war Zeile für Zeile in gleichem Abstand gesetzt, die eingezeichneten Hilfslinien für Schriftlinie und - größe blass, mit Erfahrung und Geschick die linke und rechte Satzkante bündig gehalten. Doch ebenso wie das damals leseunkundige Volk kam Maurice sich jetzt selbst vor. Er müsste diese fremdartigen Formen Buchstabe für Buchstabe entziffern , und selbst dann wäre n ihm wahrscheinlich die Ausdrucksweise und Wortwahl so fremd, dass er es nicht auf Anhieb verstehen würde.
»Ähm«, er blickte sie an. Seine hilflose Miene brachte sie zum Lachen.
»Okay, früher hat man etwas andere Schriftzeichen verwendet. Ich sage dir, was da steht. Es geht um die Prophezeiung und um das Pentagramm.«
Maurice hob fragend die Augenbrauen.
»Na, wie das Pentagramm unterm Dom, da, wo wir uns zum ersten Mal getroffen haben.«
Das hatte er schon verstanden. Ihn interessierte etwas ganz anderes. »Du warst bestimmt nicht zufällig dort.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Es gab Hinweise auf die Inschrift des Steins , und ich wollte mich selbst davon überzeugen . Quinque debet. Quinque parati. Fünf müssen es sein. Fünf sind bereit. Gemeint sind die Retter, die die Katastrophe abwenden sollen. «
»Aha, und wer genau sollen die sein?« Diese Prophezeiung war ein unlösbares Rätsel, sonst hätten die Sucher sie doch längst gefunden. Wann immer er Nachrichten hörte, war die Rede von Chaos und Verzweiflung. Die Erde brach dort auf, wo man es nie vermutet hätte , und all die Seismographen und Computerprogramme, die zuverlässige Vorhersagen und Warnungen berechnen sollten, versagten. Was
Weitere Kostenlose Bücher