Valhalla: Thriller (German Edition)
Schneefälle sind erst für morgen angekündigt. Bis dahin dürften wir die Hütte erreicht haben. Wir machen jetzt eine halbe Stunde Pause. Vertretet euch die Beine, esst etwas und tut, was ihr sonst so tun müsst. Je weiter wir heute noch kommen, desto besser.«
Hannah schaute in die Runde. Die Stelle lag geschützt zwischen zwei steil aufragenden Hängen und formte gleichsam die schmalste Stelle eines langgezogenen Tals, dem sie von Longyearbyen aus unablässig in östlicher Richtung gefolgt waren. Sie trat von einem Bein aufs andere. Sie hielt es jetzt wirklich keinen Moment länger aus. Aber wie sollte sie es anstellen? Sollte sie wirklich hier, vor allen Leuten …?
Ilka schien ihre Nöte zu bemerken. »Ich muss auch«, sagte sie. »Komm, Hannah, wir suchen uns eine geschützte Stelle. Die Männer können ja in der Zwischenzeit ein kleines Picknick für uns herrichten.«
»Entfernt euch nicht zu weit«, sagte Arkadij. »Und hier …« Er drückte Ilka ein Gewehr in die Hand. »Eisbären haben eine verdammt feine Nase. Sollte sich hier irgendwo einer herumtreiben, ist es besser, wenn ihr bewaffnet seid.« Er sah die Dänin prüfend an. »Weißt du, wie man damit umgeht?«
»Klar.« Ilka prüfte das Magazin, zog den Repetierhebel zurück und lud eine Patrone in den Lauf. »Gehen wir.«
Hannah nickte dankbar und stapfte rechts den Hang hinauf. Etwas oberhalb hatte sie zwei mannsgroße Erhebungen gesehen, die ihnen ausreichend Sichtschutz boten.
»Wo hast du gelernt, mit der Waffe umzugehen?«, fragte sie keuchend. »Ich dachte, du seist Bergsteigerin.«
»Das eine schließt das andere ja nicht aus«, entgegnete Ilka. »Ich habe einige Zeit im Iran Bergtouren geleitet. Am
Damāvand
, wo wir es des Öfteren mit Wölfen zu tun hatten. Ohne Gewehre bist du da aufgeschmissen.«
»Habt ihr euch dort kennengelernt, John und du, meine ich?«
Ilka nickte. »Wir waren mal ein Paar. Nicht sehr lange und für ihn wahrscheinlich kaum mehr als eine Affäre, aber für mich war es eine sehr intensive Zeit. Hat er dir nie von uns erzählt?«
»Nicht dass ich wüsste, nein«, sagte Hannah, die von Ilkas Direktheit überrumpelt war.
»Typisch John«, sagte Ilka mit einem wissenden Lächeln. »Er war schon immer ein Geheimniskrämer. Dass ihr zwei jetzt zusammen seid, hat er mir auch erst auf dem Flug nach Oslo erzählt. Glaub mir, es hat mich eine Menge Fragen und einige Schnäpse gekostet, um überhaupt etwas aus ihm herauszubekommen. Doch was ich dann erfahren habe, klang sehr interessant.« Sie grinste in der Dunkelheit.
Hannah hätte zu gerne gewusst, von welchen Details Ilka da redete, doch jetzt waren andere Dinge wichtiger. Sie musste mit der umständlichen Prozedur beginnen, sich aus ihrem Schneeanzug zu schälen. Warum zum Geier gab es bei diesen Anzügen keinen Notfallbeutel, wie etwa bei Astronauten? Und warum hatte sie heute Morgen bloß so viel Kaffee getrunken?
Erst der Gürtel, dann der Reißverschluss, immer eins nach dem anderen.
Sofort drang ein Schwall arktischer Luft in ihren Anzug und entriss ihr sämtliche Wärme. Es fühlte sich an wie ein Sprung ins kalte Wasser. Hannah hielt den Atem an.
Was dann folgte, war ungleich schwieriger. Sie musste sich durch zwei Schichten Funktionsunterwäsche wühlen und dann eine Stelle finden, an der sie Platz nehmen konnte, ohne umzukippen. Gott sei Dank war es dunkel. Sie bot sicher einen äußerst peinlichen Anblick.
Die Luft brannte wie kalter Stahl auf ihrer Haut. Als sie fertig war, konnte sie es kaum erwarten, endlich wieder alles einzupacken und den Reißverschluss zu schließen. Erleichtert atmete sie auf. »Fertig«, sagte sie. »Du bist dran.«
Ilka drückte ihr das Gewehr in die Hand.
Fünf Minuten später waren sie auf dem Rückweg. Hannah ging das kurze Gespräch mit Ilka durch den Kopf. Sie hätte zu gern einige Fragen gestellt, wusste aber nicht, wie sie es anstellen sollte. Hatte John ihr von der Schwangerschaft erzählt? So indiskret würde er doch nicht sein, oder doch? Er und Ilka schienen sich früher sehr nahegestanden zu haben. Die Art, wie sie miteinander sprachen, wie sie zusammen scherzten und lachten – es war eine Vertrautheit zwischen ihnen, um die Hannah sie beneidete. John und sie liebten einander zwar, doch es war eine distanzierte Liebe. Mehr so eine Art verzweifeltes Begehren, ohne dass man dem anderen dabei jemals wirklich nahekam. Hannah hätte das gerne geändert, aber irgendwie schien immer etwas
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