Valhalla: Thriller (German Edition)
Abschnitt ist trotzdem wichtig, da er die erste Erwähnung Hyperboreas überhaupt darstellt. Natürlich war Herodot ein zu schlauer Fuchs, um sich auf eine genaue geographische Ortsbeschreibung festzulegen, aber er maß den Gerüchten immerhin so viel Bedeutung bei, dass er sie in seinen Historien erwähnt.«
»Trotzdem. Herodot hat sich schon mehr als einmal als höchst unzuverlässige Quelle entpuppt. Viele Längen- und Breitenangaben stimmen einfach nicht. Manches ist gar völliger Unsinn, wie zum Beispiel seine Beschreibung hundegroßer goldschürfender Ameisen in Indien. Aber solche Fehler schleichen sich eben ein, wenn Erzählungen mündlich überliefert werden oder – wie so oft – Wissen aus zweiter Hand verwendet wird. Manche Historiker behaupten gar, Herodot habe die Länder gar nicht selbst bereist, sondern zu Hause gehockt und die Reiseberichte anderer übersetzt und zusammengefasst, was die Ungenauigkeiten noch gravierender macht. Überdies neigt er zu farbigen Anekdoten und sparte nicht damit, fiktionale Erzählungen in seine Texte mit einzubauen. Verständlich, wenn man bedenkt, dass zu seiner Zeit die Berichte in erster Linie dazu dienten, ein staunendes Publikum zu unterhalten.«
»Und doch gibt es kaum Alternativen zu seinen Reiseberichten. Für viele Ereignisse stellte Herodot lange Jahre die einzige Quelle dar«, erwiderte Stromberg und faltete die Hände über dem Bauch. »Sie wissen genauso gut wie ich, dass Archäologie immer eine Spurensuche ist. Hier ein Fragment, da ein Fragment. Das gesamte Bild erschließt sich erst, wenn man genügend Teile beisammen hat und ein Stück zurücktritt. Ich habe hier übrigens noch ein Puzzleteil für Sie: 400 Jahre später, im 1. Jahrhundert vor Christus tritt ein anderer Mann auf den Plan: der griechische Geschichtsschreiber
Diodor
. Unter Berufung auf einen gewissen Hekataios von Milet erzählt er, dass Hyperborea eine Insel von der Größe Siziliens sei, die im Ozean jenseits des Landes der Kelten liege und mit einem milden Klima gesegnet sei. Alles grüne und blühe dort. Leto, die Mutter Apollons, sei dort geboren, weshalb Apollon dort sehr verehrt würde. Im heiligen Bezirk befände sich ein kreisförmiger Tempel, der dem Apollon geweiht sei.«
»Ja, auch diese Geschichte kenne ich«, sagte Hannah über ihre Tasse hinweg. Der Tee war inzwischen abgekühlt und gut trinkbar. »Die Überlieferung Diodors rief etliche Historiker auf den Plan, die vermuteten, es könne sich bei Hyperborea um die britischen Inseln handeln und der kreisförmige Tempel sei womöglich die megalithische Kultstätte Stonehenge.« Sie stellte ihre Tasse ab. »Vergeben Sie mir, aber ich halte das für Humbug. Mythen und Legenden, die sich über Jahrtausende zu wilden Spekulationen emporgeschwungen haben.«
»Das sagen Sie, die das Auge der Medusa gefunden und das Rätsel der Himmelsscheibe gelüftet hat?«
»Nichts habe ich gelüftet. In beiden Fällen habe ich – zugegebenermaßen – merkwürdige Dinge erlebt. Doch was es war, das ich da gefunden habe, kann ich bis heute nicht mit Bestimmtheit sagen. Im Nachhinein betrachtet, kommt es mir so vor, als hätte ich nicht alle meine Sinne beisammen gehabt.«
Stromberg verschränkte die Arme. »Das enttäuscht mich aber. Ich dachte, die Erlebnisse hätten Sie sensibilisiert – Sie empfänglich gemacht für das Mysteriöse, das Unerklärliche.«
»Das genaue Gegenteil ist der Fall«, erwiderte Hannah. »Seit diesen Tagen versuche ich mich mehr denn je an Fakten zu klammern. An Tatsachen, Beweise. Was meine bisherigen Expeditionen betrifft: Es sind Menschen gestorben, gewiss, aber habe ich irgendetwas mitgebracht, was vor einer unabhängigen Schiedskommission bestehen würde? Was irgendjemand mir glauben würde?«
»Was ist mit dem, was Sie gesehen und was Sie erlebt haben? Wir beide wissen, was geschehen ist. Wollen Sie ernsthaft behaupten, dass es bloße Einbildung war?«
Hannah zögerte. »Das muss ich wohl. Um vor mir selbst bestehen zu können und um nicht den Verstand zu verlieren, muss ich es. Wissen Sie, was man mir nachsagt? Dass ich die Gabe der Vorhersehung habe, das Zweite Gesicht.«
»Ist mir bekannt, ja. Um ehrlich zu sein, das war der Grund, warum ich Sie zu Rate gezogen habe. Techniker und Wissenschaftler habe ich genug, was mir fehlt, ist jemand mit spirituellen Instinkten, so wie Sie sie besitzen.«
»Ach, und deswegen haben Sie John außen vorgelassen. Jetzt verstehe ich.« Hannah spürte
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