Valhalla: Thriller (German Edition)
Eckdaten ins Hirn zu pauken. Sie schlug ihren Reiseführer auf.
Hier stand, dass Svalbard (deutsch:
Kalter Rand)
fünf Inseln umfasste, die nördlich des Polarkreises zwischen dem 74. und 81. Breitengrad lagen. Vier Nordmeere trafen hier aufeinander: die Grönlandsee, das Europäische Nordmeer, die Barentssee und das Nordpolarmeer. Bei einer Jahresdurchschnittstemperatur von minus viereinhalb Grad tauten die Küstenregionen nur im Sommer für etwa sechs Wochen auf. Verdammt kalt, bedachte man, dass Hannah ihr halbes Leben in tropischen und wüstenhaften Gegenden verbracht hatte. Doch es kam noch schlimmer: Von Mitte Oktober bis Anfang März herrschte die Polarnacht, die Sonne stieg dann bis maximal knapp unter den Horizont, ehe sie wieder versank. Viereinhalb Monate Finsternis – da blieb einem ja kaum etwas anderes übrig, als zum Alkoholiker zu werden.
Die Insel selbst war allerdings faszinierend. Spitzbergen galt als das »größte Labor der Erde« – viele Nationen durften hier Arktis- und Klimaforschung betreiben. Die Gründe dafür waren in der wechselhaften Geschichte des Archipels zu sehen. Auf die Robben- und Walfänger aus Holland, England, Deutschland und Dänemark, die über Hunderte von Jahren hinweg hierherkamen, folgten die russischen Pelztierjäger sowie die norwegischen Trapper und Fallensteller. Die Jagd nach Tran, Fleisch und wertvollen Pelzen brachte gutes Geld und rief Abenteurer und skrupellose Wilderer auf den Plan. Dann wurde das schwarze Gold entdeckt – die Kohle. Die Vorkommen auf Spitzbergen waren heiß begehrt, denn sie zählten zu den besten weltweit. Die Kohle dort war so rein, dass sie nicht zur Energiegewinnung, sondern ausschließlich für die Stahlverarbeitung verwendet wurde. Amerikanische, russische, schwedische und norwegische Unternehmen beteiligten sich an der Förderung und erzielten riesige Profite. Warum auch heute noch die meisten Menschen auf Spitzbergen vom Kohlebergbau lebten, war einfach zu erklären: Die Erde war nackt. Weder Bäume noch Gebüsch bedeckten den Boden, und die Schneedecke schwand im Sommer. Das hieß, dass sich die Bodenformationen in den vier Monaten, während die Polarsonne schien, wie ein Buch lesen ließen.
Doch die Tage der Kohle waren gezählt. Wissenschaftlichen Schätzungen zufolge würden die Reserven in 20 bis 25 Jahren erschöpft sein. Grund genug für die norwegische Regierung, nach alternativen Einnahmequellen zu suchen. Massentourismus schied aufgrund der schwierigen Wetterbedingungen und des empfindlichen Ökosystems aus, deshalb setzte man lieber auf wissenschaftliche Aktivitäten. Beobachtungen der nordpolaren Stratosphäre, Meeresbiologie, Gletscherkunde, Biologie und Ökologie, aber auch der Aufbau des
Svalbard Global Seed Vault
, einer modernen Arche Noah für Nutzpflanzen, gehörte dazu. Das spülte zwar nicht besonders viel Geld in die Kassen, brachte dem Land aber internationales Prestige. Und das war wichtig für Norwegen.
Hannah war überrascht zu lesen, dass die Eigentumsverhältnisse auf den Inseln keineswegs so eindeutig waren, wie Norwegen das gerne darstellte. Gewiss, laut dem Spitzbergenvertrag vom 9. Februar 1920 besaßen die Norweger noch immer die Souveränität über den Svalbard-Archipel, doch die Verwaltung implizierte nicht automatisch das Recht, die Rohstoffvorkommen, also Kohle, Öl und die reichhaltigen Fischgründe innerhalb der Zweihundert-Meilen-Zone, auszubeuten. Besonders das Öl hatte es den Norwegern angetan. Russischen Forschungsergebnissen zufolge befand sich vor der Westküste Spitzbergens ein Vorkommen in der Größenordnung von 60 Millionen Tonnen Rohöl. Auch auf der östlichen Seite, westsüdwestlich vom Franz-Josef-Land, waren reiche Funde gemacht worden. Im Mai 2012 hatten die norwegische
Statoil
und die russische
Rosneft
in Moskau einen Vertrag über ein Ölfeld im russischen Teil der Barentssee abgeschlossen. Im lizenzierten Gebiet sollte Öl im Wert von 35 bis 40 Milliarden US -Dollar stecken. Grund genug für Norwegen, die Eigentumsverhältnisse im Unklaren zu lassen. Wäre den Partnern bei der Vertragsschließung 1920 bewusst gewesen, welche Schätze da im Erdinneren lagern, die Verhandlungen wären sicher anders verlaufen.
Nur rund 1800 Menschen lebten in der Hauptstadt Longyearbyen, noch einmal 400 drüben im russischen Barentsburg. Dann waren da noch etwa 200 Grubenarbeiter, die von Ort zu Ort zogen, und ein paar Forscher, von denen aber nur die wenigsten während der dunklen
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