Valhalla: Thriller (German Edition)

Als hätte ein Schatten das Land überzogen. Das war natürlich Unsinn, aber er konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass die Strahlung das Tageslicht schluckte. Den Gedanken verdrängend, fuhr er weiter.
    Er passierte Shiroishi, verließ dann die Tohoku-Schnellstraße einige Kilometer südlich und nahm die 114 in Richtung Küste. Sein Strahlenanzug gab raschelnde Laute von sich, als er den Kreisverkehr an der zweiten Ausfahrt verließ und Richtung Namie-Machi fuhr. Die Ortschaften rechts und links des Tomioka-Highways glichen Geisterstädten. Trostlose, entvölkerte Siedlungen, die einem Zombiefilm entsprungen sein konnten. Hier begegnete man bestenfalls mal einem Polizeifahrzeug oder einem Van der Fukushima Kernkraftwerke.
    Auch Hiroki war auf dem Weg dorthin, allerdings nur zu den Blöcken fünf und sechs, die den Tsunami halbwegs glimpflich überstanden hatten. Es gab Probleme in der Leitstelle, und die Tokyo Electric Power Company, kurz TEPCO genannt, hatte ihn beauftragt, den firmeneigenen Computerspezialisten bei der Neuausrichtung der Systemfunktionen zur Hand zu gehen. Hiroki war einer der wenigen, der sich noch mit der veralteten Computertechnik auskannte, wie sie in den Reaktorzentralen Verwendung gefunden hatte. Zwar waren die Computer immer wieder nachgerüstet und mit aktueller Software bestückt worden, doch stammte die Architektur der Hardware teilweise noch aus den 1980ern. Kein Wunder: Fukushima Daiichi war 1971 in Betrieb genommen worden und somit eines der ältesten und leistungsfähigsten Kernkraftwerke auf japanischem Boden. Dass es überhaupt so lange in Betrieb gehalten wurde, gab Zeugnis von der meisterhaften Ingenieurskunst der damaligen Zeit. Leider hatte man zu wenig Wert auf eine seeseitige Absicherung gelegt, und das, obwohl die Risiken schon lange bekannt waren. Japan war Teil des pazifischen Feuerrings und befand sich inmitten einer Zone, die ständig von Erschütterungen der Erde bedroht war. Der eigentliche Denkfehler lag also nicht in der Konstruktion des Kernkraftwerkes, sondern in der Tatsache, in einer solchen Region
überhaupt
ein AKW bauen zu wollen. Aber wenn Geld und Machtinteressen auf dem Spiel standen, war das Gedächtnis der Menschen kurz. Was den anfänglich angekündigten Atomausstieg betraf, war man inzwischen wieder zurückgerudert. Als sicher eingestufte Atomreaktoren sollten wieder in Betrieb genommen und die Pläne zum Ausstieg aus der Kernenergie auf den Prüfstand gestellt werden. Auch der Bau neuer Reaktoren sei nach eingehender Sicherheitsüberprüfung nicht mehr ausgeschlossen, hieß es.
    Sollten sie doch machen, was sie wollten. Hiroki hatte vor, so bald wie möglich das Land zu verlassen. Eine Frau hatte er nicht, seine Eltern waren alt, und seine Schwester war mit Mann und Kindern nach Hokkaido, in die Nähe von Sapporo gezogen, wo sie in einem landwirtschaftlichen Betrieb arbeiteten. Niemand, der ihn großartig vermissen würde, wenn er seinen Plan wahr machen und in die USA übersiedeln würde. Sein Traum war, sich bei Blizzard Entertainment in Irvine, Kalifornien, zu bewerben und Computerspiele zu programmieren. Bis es so weit war, musste er allerdings noch Geld verdienen, denn sein Traum würde nicht ganz billig werden. Doch er würde es schaffen, davon war er überzeugt. Auch wenn es bedeutete, dass er seine Gesundheit in dieser strahlenverseuchten Umgebung riskierte.
    Er passierte das Ortsschild von Namie-Machi und nahm den Fuß vom Gas. Alles wirkte so sauber und aufgeräumt. Wie an einem Sonntag, wenn gerade Kirche war. Autos standen in den Garageneinfahrten, Tankstellen wirkten so, als hätten sie gerade den letzten Kunden bedient, und in den Supermarktfenstern prangten die Sonderangebote. Es sah so unwirklich aus, dass er nicht anders konnte, als sich das Ganze aus der Nähe anzuschauen.
    Er lenkte den Wagen an den Seitenstreifen und stieg aus. Sicherheitshalber setzte er seine Atemmaske auf. Schließlich hatte er vor, irgendwann einmal Kinder zu haben.
    Während er über die Hauptstraße schlenderte, kamen die Erinnerungen in ihm hoch. Es gab da diesen alten Science-Fiction-Film, in dem ein geheimnisvoller Krankheitserreger eine amerikanische Kleinstadt auslöschte. Nur ein alter Säufer und ein kleines Baby überlebten und wurden von ein paar Wissenschaftlern in Sicherheitsanzügen gefunden. So kam er sich jetzt vor. Nur mit dem Unterschied, dass hier tatsächlich niemand mehr lebte. Nicht mal Vogelgezwitscher war zu hören. Als würde die