Vampire Academy 06 ● Schicksalsbande
quittiert, dann versicherte sie aber den anderen, dass sie morgen noch mit uns sprechen könnten. Beim Umschauen entdeckte ich im Osten einen schwachen Purpurton am Himmel. Sonnenaufgang. Eine Gruppe von Moroi, die sich an die traditionellen Gebräuche klammerte, würde beinahe mit Sicherheit nach einem nächtlichen Zeitplan leben, was bedeutete, dass diesen Leuten wahrscheinlich nur wenige Stunden bis zur Schlafenszeit blieben.
Die Frau sagte, ihr Name sei Sarah, und führte uns den staubigen Weg hinunter. Raymond rief uns nach, er käme uns bald nach. Unterwegs sahen wir andere Leute in der Nähe von verstreut liegenden, baufälligen Häusern herumlaufen. Wahrscheinlich waren sie auf dem Weg ins Bett oder durch den ganzen Aufruhr erwacht. Sarah warf einen Blick zu Sydney hinüber.
„Haben Sie uns etwas mitgebracht?“
„Nein“, antwortete Sydney. „Ich bin nur zu ihrer Begleitung hier.“
Sarah wirkte zwar enttäuscht, nickte jedoch. „Eine wichtige Aufgabe.“
Sydney runzelte die Stirn und schien sich noch unbehaglicher zu fühlen. „Wie lange ist es her, seit Ihnen meine Leute etwas gebracht haben?“
„Einige Monate“, erwiderte Sarah nach kurzem Nachdenken.
Sydneys Miene verdüsterte sich zwar bei diesen Worten, aber sie sagte sonst nichts mehr.
Schließlich führte uns Sarah in eins der größeren und hübscheren Häuser, auch wenn es trotzdem schlicht war und aus ungestrichenen Holzbrettern bestand. Im Innern war es stockdunkel, und wir warteten, während Sarah altmodische Laternen entzündete. Ich hatte also recht gehabt. Kein Strom. Bei dieser Erkenntnis kam mir auf einmal der Gedanke, wie es hier wohl um sanitäre Anlagen bestellt sein mochte.
Die Böden bestanden wie die Wände aus Holz und waren mit großen, leuchtend bunt gemusterten Teppichen bedeckt. Wir befanden uns offenbar in einer Mischung aus Küche, Wohn-und Esszimmer. In der Mitte war ein großer Kamin zu sehen, auf der einen Seite standen ein Holztisch und Stühle, und auf der anderen lagen Kissen, die vermutlich als Sofas dienten. Gestelle mit Kräutern zum Trocknen hingen in der Nähe des Kamins, und die Kräuter erfüllten den Raum mit einem würzigen Duft, der sich mit dem Geruch von verbranntem Holz vermischte. In der Rückwand gab es drei Türen, und Sarah deutete nickend auf eine davon.
„Sie können im Zimmer der Mädchen schlafen“, sagte sie.
„Danke“, entgegnete ich und war mir gar nicht so sicher, ob ich wirklich wissen wollte, wie unsere Gästequartiere aussahen. Ich vermisste schon jetzt das MOTEL. Neugierig musterte ich Sarah. Sie hatte schätzungsweise Raymonds Alter und trug ein schlichtes, knielanges blaues Kleid. Das blonde Haar hatte sie im Nacken zusammengebunden, und mir kam sie klein vor, wie alle Menschen. „Sind Sie Raymonds Haushälterin?“ Es war die einzige Rolle, die ich mir für sie vorstellen konnte. Sie hatte einige Bissmale, war aber offensichtlich keine Spenderin. Zumindest keine in Vollzeit. Vielleicht fungierten Spender hier gleichzeitig als Haushaltshilfen.
Sie lächelte. „Ich bin seine Frau.“
Es sprach für meine Selbstbeherrschung, dass ich jetzt überhaupt noch zu irgendeiner Antwort imstande war. „Oh.“
Sydneys scharfer Blick fiel auf mich, eine Warnung stand in ihren Augen: Lass es gut sein! Ich biss abermals die Zähne zusammen und nickte ihr kurz zu, um sie wissen zu lassen, dass ich verstanden hatte.
Nur dass ich gar nichts verstand. Dhampire und Moroi hatten ständig Beziehungen. Dhampire mussten das tun. Dauerhaftere Verbindungen waren skandalös – aber nicht vollkommen außerhalb des Möglichen.
Aber Moroi und Menschen? Das überstieg nun mein Verständnis. Diese Rassen waren seit Jahrhunderten nicht mehr zusammengekommen. Sie hatten vor langer Zeit Dhampire hervorgebracht, aber während die moderne Welt vorangeschritten war, hatten die Moroi vollkommen aufgehört, sich (auf eine intime Weise) mit Menschen einzulassen. Wir lebten unter ihnen, sicher. Moroi und Dhampire arbeiteten draußen in der Welt Seite an Seite mit Menschen, kauften Häuser in ihren Wohnvierteln und hatten bizarre Arrangements mit Geheimgesellschaften wie den Alchemisten. Und natürlich nährten sich Moroi von Menschen – und genau das war es. Wenn man einen Menschen in seiner Nähe hielt, dann doch deshalb, weil er ein Spender war. Darauf beruhte das ganze Ausmaß an Intimität. Spender waren Nahrung, schlicht und einfach. Gut behandelte Nahrung, ja, aber keine Nahrung, mit der man
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