Vampire küsst man nicht: Argeneau Vampir 12
aufmerksam, indem sie mit Gina telefonierte. Die Misere, in der sie steckte, hatte sie sich komplett selbst zuzuschreiben. Sie konnte nur froh sein, dass Nicholas weggegangen war und Ernie sie beide nicht überrascht hatte, als sie einmal mehr für eine Weile ohnmächtig gewesen waren, sonst hätte sie jetzt ein noch schlechteres Gewissen.
Ihre Gedanken schweiften zu Nicholas ab, und Jo konnte nur hoffen, dass er sich ihren Tod nicht zu sehr zu Herzen nehmen würde. Aber ganz sicher würde er sich die alleinige Schuld geben, weil er nicht bei ihr geblieben war. Das war einfach nicht fair. Fünfzig Jahre lang hatte er sich Vorwürfe gemacht wegen eines Mordes, den er nicht begangen hatte, und nun würde ihn auch noch ihr Tod quälen, obwohl er dafür auch nicht verantwortlich war. Sie wünschte, sie könnte mit ihm reden und ihm das sagen.
Hätte sie doch bloß noch Gelegenheit gehabt, Nicholas zu sagen, wie viel er ihr bedeutete. Er hatte ihr seine Liebe gestanden, und sie hatte ihn nur wie begriffsstutzig angestarrt und keinen Ton herausgebracht. Sie wünschte, sie könnte die Zeit zurückdrehen und diesen Moment noch einmal erleben, damit sie ihm sagen konnte, dass sie ihn auch liebte. Es war schon eigenartig, wie klar man mit einem Mal die Dinge sah, wenn man dem Tod in die Augen blickte.
Sie mochte ihre Schwestern, und sie hatte viele gute Freunde, aber hätte sie die Möglichkeit bekommen, noch einmal zehn Minuten oder auch nur eine einzige Minute mit einem Menschen ihrer Wahl zu verbringen, sie würde sich, ohne zu zögern, für Nicholas entscheiden. In seiner Nähe zu sein, seinen Duft einzuatmen, seine starken Arme zu fühlen, das würde es ihr unendlich leichter machen, den Tod zu akzeptieren. Vermutlich sollte sie dankbar dafür sein, dass sie Nicholas überhaupt kennengelernt hatte, doch sie wollte mehr. Sie....
»Lieber Gott, wenn du an nichts anderes mehr denken kannst als an diesen weinerlichen Kram, dann werde ich dich schlafen lassen. Ich höre mir das nicht die ganze Zeit an.« »Dann lass mich schlafen«, zischte Jo ihm zu, und kaum hatte sie die letzte Silbe ausgesprochen, wurde ihr bewusst, dass Dunkelheit sie umhüllte.
15
Wieder bewegte sich Jo, bevor sie wach war. Es war eine unangenehme Art, aus dem Schlaf geholt zu werden, da sie sich desorientiert fühlte und schreckliche Angst empfand. Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass sie offenbar den Parkplatz eines Motels überquerte. Ihr Blick wanderte hin und her, und sie sah einen sauberen Fußweg, hübsche Blumen hingen an der Markise, die sich über die gesamte Länge des Motels erstreckte. Sie näherte sich einer Tür mit der Nummer sechs, als auf einmal eine Hand vor ihr auftauchte, um die Tür zu öffnen. Als sie ihre Augen, denn mehr konnte sie nicht bewegen, von der Hand zum Arm und weiter zur Schulter gleiten ließ, entdeckte sie ganz am Rande ihres Sichtfelds einen Teil von Ernies Gesicht.
Wie es schien, hatten sie ihr Ziel erreicht. Jo stockte der Atem, als die Tür aufging, da sie versuchte, sich auf das gefasst zu machen, was sie in dem Zimmer dahinter erwarten würde. Dann bewegte sich ihr Körper ohne eigenes Zutun weiter. Ihre Kehle war wie ausgedörrt, ihr Herz raste vor Angst. Sie suchte nach Ernies Vater, dem Mann, der sie zweifellos töten würde, um Nicholas den Tod seiner Söhne heimzuzahlen. Doch da war kein Mann, sondern nur eine junge Frau, die auf einem der beiden luxuriösen Betten schlief.
Jos Körper blieb stehen, und die Tür wurde hinter ihr geschlossen. Doch davon konnte sie nichts sehen, da sie vor dem Bett stand, auf dem die schlafende Frau lag, die Anfang zwanzig zu sein schien, also etwa so alt wie Jo, doch das war auch schon die einzige Übereinstimmung. Sie hatte kurzes, stacheliges schwarzes Haar und war so dürr wie eine Heroinsüchtige. Unter das linke Auge hatte sie sich eine Fledermaus tätowieren lassen, und sie trug diverse Piercings, mehrere an den Ohren, eines durch die Augenbraue, dazu einen Nasenring. Ihre schwarze Lederhose lag hauteng an, über einem schwarzen Spitzen- BH trug sie ein schwarzes Netztop. Sie sah.... interessant aus.
»Und wo ist dein Vater?«, fragte Jo, als Ernie in ihr Sichtfeld kam, da er zu ihr ans Bett trat. »Dafür müssen wir einige Tage lang nach Süden fahren«, antwortete er knapp, ergänzte dann aber: »Wir machen uns auf den Weg, sobald ich ein paar Stunden geschlafen habe. Ich habe zwei Tage lang das Apartment beobachtet. Ich bin zu müde, um jetzt
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