Vampirgeflüster
üblichsten Gedanken aller Zeiten? Auf jeden Fall sind sie allesamt furchtbar langweilig.
Die meisten Leute denken über ihre Geldsorgen nach, oder darüber, was sie einkaufen müssen, welche Hausarbeiten noch zu erledigen sind, wie es in ihrem Job läuft. Und sie machen sich Sorgen um ihre Kinder... sehr oft. Sie grübeln über Auseinandersetzungen mit ihrem Boss, ihren Ehegatten, ihren Kollegen und Mitgliedern ihrer Kirchengemeinde.
Im Großen und Ganzen sind 95 Prozent dessen, was ich in den Gedanken der Leute lese, Sachen, die man nicht mal ins Tagebuch schreiben möchte.
Gelegentlich denken die Männer (die Frauen viel seltener) an Sex mit jemandem, den sie im Merlotte's sehen - aber das ist immer das Gleiche, ehrlich gesagt, und ich blende es aus, jedenfalls solange sie nicht an mich denken. Das ist ziemlich abstoßend. Und die Sexfantasien multiplizieren sich mit der Anzahl der Drinks, auch das keine Überraschung.
Die Leute, die über den Mord an Crystal nachdachten, waren allesamt von der Polizei und damit beauftragt, den Fall zu lösen. Falls einer der Täter in der Bar war, dann dachte er einfach nicht an das, was er getan hatte. Denn es waren sicher mehr als nur einer daran beteiligt. Ein Mann allein konnte doch kein Kreuz aufrichten, zumindest nicht, ohne jede Menge Vorbereitung und einige raffinierte Flaschenzug-Vorrichtungen. Da müsste man schon eine Art Supra sein, um so was ganz ohne Hilfe zu bewerkstelligen.
Das waren Andy Bellefleurs Gedanken, während er auf seinen knusprigen Hühnchensalat wartete.
Ich musste ihm zustimmen. Und ich hätte schwören können, dass Calvin auf diese Idee auch gekommen war. Calvin hatte die Leiche beschnuppert, und nichts davon gesagt, dass er den Geruch eines Wergeschöpfes wahrgenommen hatte. Doch sogar ich erinnerte mich daran, dass einer der beiden Männer, die die Leiche vom Kreuz genommen hatten, ein Supra war.
Tja, ich erfuhr absolut nichts Neues, Fehlanzeige - bis Mel hereinkam. Mel, der in einer von Sams Doppelhaushälften wohnte, sah heute Abend aus wie direkt einem Robin-Hood-Musical entstiegen. Sein längliches hellbraunes Haar, der sorgfältig gestutzte Bart und die engen Hosen verliehen ihm ein theatralisches Flair.
Mel nahm mich zur Begrüßung kurz in den Arm, was mich ziemlich überraschte. Er tat, als wäre ich eine gute Freundin von ihm.
Wenn dieses Verhalten etwas damit zu tun hatte, dass mein Bruder und er beide Werpanther waren ... aber selbst das ergab ja keinen Sinn. Keiner der anderen Werpanther war wegen Jason plötzlich anhänglich. Die Leute in Hotshot waren allenfalls etwas freundlicher geworden zu mir, als Calvin Norris mich zu seiner Ehefrau machen wollte. Wollte Mel insgeheim gern mit mir ausgehen? Das wäre mir ... unangenehm und unwillkommen.
Ich begab mich auf einen kleinen Erkundungstrip in Mels Kopf, wo ich keine lüsternen Gedanken über mich entdeckte. Wenn er sich von mir angezogen fühlte, hätte er sie jetzt denken müssen, denn ich stand genau vor ihm. Mel dachte jedoch an das, was Catfish Hennessy, Jasons Boss, heute im Einkaufsmarkt für Autozubehör in Bon Temps über Jason gesagt hatte. Catfishs Geduld war ans Ende gelangt, und er hatte Mel erzählt, dass er darüber nachdenke, Jason zu feuern.
Mel machte sich richtig Sorgen um meinen Bruder. Ich fragte mich schon mein ganzes Leben lang, wie es so einem Egoisten wie meinem Bruder immer wieder gelang, solch treue Freunde zu gewinnen. Mein Urgroßvater hatte mir erzählt, dass Menschen mit einer Spur Elfenblut attraktiver waren als andere, vielleicht erklärte es sich so.
Ich ging hinter den Tresen, um Jane Bodehouse noch einen Tee einzuschenken. Sie versuchte heute nüchtern zu bleiben, weil sie eine Liste der Männer zusammenstellen wollte, die sie eventuell mit den Chlamydien angesteckt hatten. Eine Bar ist der denkbar schlechteste Ort, um einen Entzug zu beginnen - aber Jane hatte sowieso kaum eine Chance auf Erfolg. Ich tat eine Scheibe Zitrone in den Tee und trug ihn zu Jane, die mit zittrigen Händen aus dem Glas trank.
»Möchten Sie etwas essen?«, fragte ich mit leiser, dunkler Stimme. Nur weil ich noch nie einen Alkoholiker in einer Bar eine Ausnüchterung hatte machen sehen, musste es ja nicht unbedingt schiefgehen.
Jane schüttelte schweigend den Kopf. Ihr braun gefärbtes Haar löste sich schon aus der Spange, die es zusammenhielt, und ihr dicker schwarzer Pullover war übersät mit Krümeln von diesem und jenem. Ihr Make-up war eindeutig mit
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