Vampirjaegerin inkognito
sechster Sinn ein, ein e Art weiterentwickeltes Fühlen . S o konnten Vampire mit ihrem Geist die Präsenz anderer übernatürlicher Wesen ertasten u nd auch feststellen, wie mächtig diese waren. Ob es dieser sechste Sinn war, den ich auch an mir heute zum ersten Mal entdeckt hatte ? Jenes Gefühl, das mir die Stärke von Dario, Lucian und Marcelle verraten hatte?
Ich vertiefte mich wieder ins Buch und stellte m it Erleichterung fest, dass die meisten Vampire nicht mehr als die bereits beschriebenen übernatürlichen Fähigkeiten besaßen. Keine Rede von Fliegen können, sich in eine Fledermaus verwandeln oder mit Wölfen kommunizieren. Jedoch erlernten einige wenige, sehr mächtige Vampire irgendwann , wie sie mit ihrem Geist Dinge bewegen oder anderen Wesen körperliche Schmerzen zufügen konnten. Ich musste an vorhin denken, als Lucian Marcelle ‚bestraft’ hatte . War es etwa da s gewesen, was er getan hatte? Hatte er i hr mit seinem Geist Schmerzen zugefügt? Auf meinen Armen bildete sich Gänsehaut. War ausgerechnet Lucian einer der wenigen Vampire, die solch e übernatürliche Kräfte besaßen? Das würde mein Tötungsvorhaben unter Umständen deutlich erschweren.
Ich wollte das Buch schon zuklappen, da fiel mir noch ein Abschnitt ins Auge: Vampire, die einen anderen Vampir er schaffen haben, können mit diesem über Telepathie kommunizieren. Mehr dazu in Kapitel 6: Die Abhängigkeit zwischen Meister und Geschöpf .
Ich überlegte kurz, ob ich auch in dieses noch hineinschauen sollte, doch dann klappte ich entschlossen das Buch zu. Im Grunde wusste ich bereits eine ganze Menge über Vampirmeister und diejenigen, die sie geschaffen hatten. Zum Beispiel, dass die Meister glaubten, sie wü ssten alles über ihre Geschöpfe. A ber es nicht einmal merkten, wenn dieses hinter ihrem Rücken zum Bund lief en und sie verrieten. Die Information mit der Telepathie war interessant . Kein Wunder, dass Marcelle so plötzlich im Hotelzimmer aufgetaucht war. Und kein Wunder, dass sie beschlossen hatte, ihren Meister zu verraten. Es musste die Hölle sein , jemanden wie Lucian ständig im eigenen Kopf herumspuken zu hören.
Als ich später beim Zähneputzen einen zufälligen Blick in den Spiegel warf, ließ ich erschrocken die Zahnbürste f allen. Dort, wo Lucian mich gewürgt hatte, prangte ein hässliches, rotes Mal . Ich starrte es einen Moment entgeistert an, dann stieg lodernder Zorn in mir hoch . Zum Glück hatte ich zugestimmt, den Auftrag weiter zu verfolgen. Dieser Vampir, der glaubte, sich alles erlauben zu können, würde sterben. Durch meine Hand.
Mit diesem befriedigenden Gedanken verließ ich das Bad, legte mich ins Bett und schlief innerhalb weniger Sekunden ein.
Kapitel 3
Als ich am nächsten Tag im Bus zum Bahnhof saß, dämmerte es bereits . Ich beobachtete durch das Fenster, wie wir die Schauersiedlung hinter uns ließen und in Richtung der nächstgrößeren Stadt fuhren. Schon nach wenigen Minuten im beheizten Bus begann ich, in meinem dicken Schal zu schwitzen. Zögernd zog ich ihn aus, strich mir dafür aber meine langen, braunen Haare über das Mal an meinem Hals , welches sich über Nacht dunkelblau gefärbt hatte. Ich sah mich verstohlen um. Auf keinen Fall wollte ich, dass mich irgendjemand ansprach oder sogar die Polizei rief, weil ich wie ein Misshandlungsopfer aussah.
Schon hatte ich das Gefühl, neugierige Blicke auf mir zu spüren. Ich drehte mich um und sah ein Pärchen , welches schräg hinter mir saß und angeregt miteinander tuschelte . Dabei warfen mir die beiden immer wieder kurze Blicke zu. Seufzend zog ich den Schal wieder an.
Als ich am Bahnhof aus dem Bus sprang fand ich mich inmitten einer vorwärts strömenden Menschenmasse wieder. Ich mischte mich unter sie und hielt Ausschau nach meiner Begleitung. Die Sonne war so gut wie weg, eigentlich k o nnten die Vampire langsam aus ihren Särgen gekrochen kommen . Natürlich wusste ich aus meinem Buch , in welchem ich heute Vormittag noch ein wenig geblättert hatte, dass Vampire nicht in Särgen schliefen. Sie schliefen überhaupt nicht , sondern verbargen sich tagsüber lediglich vo r dem Sonnenlicht. Trotzdem gefiel mir die Vorstellung, dass Lucian gerade in diesem Moment aus seinem Sarg kletterte – und sich den Kopf am Deckel stieß.
Kaum hatte ich den Haupteingang passiert und war bei den Gleisen angekommen , legte sich der Menschenstrom etwas. Kein Wunder. Hier sah es aus, wie auf einer Shoppingmeile: Bäcker, kleine
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