Vanessa, die Unerschrockene
es spannender wird. Das ist gut. Hast du das gehört, Markus?“, rief er zum Torwart hinüber. „Lass ruhig mal einen von ihr rein! Sonst hat sie ja überhaupt keine Chance.“
„Aber gerne“, gab Markus zurück. „Vorausgesetzt allerdings, dass sie mal trifft.“
Die Wilden Kerle lachten sich tot und ich wurde immer nervöser. „Hau ab! Hau ab!“, zischte es in meinem Kopf und die ersten Tränen traten in meine Augen. „Nein! Nur nicht das!“, riss ich mich erschrocken am Riemen. „Nein! Auf keinen Fall heulen. Den Gefallen tust du ihnen nicht!“
Dann lief ich an und, verflixt, der Ball flog direkt auf den Torwart zu. Für Markus wäre es ein Leichtes gewesen, ihn einfach zu fangen. Doch stattdessen sprang er dem Leder so entsetzt aus dem Weg, als handele es sich dabei um eine Kanonenkugel.
„Hey! Was hab ich gesagt?! Zwei zu eins! Habt ihr diesen Jahrhundertelfmeter gesehen?“, jubelten die Wilden Kerle für mich, doch ich verfluchte sie insgeheim für diese Demütigung und wischte mir heimlich und schnell die erste Träne aus dem Gesicht.
Den nächsten Elfmeter verschoss Juli „Huckleberry“ Fort Knox so offensichtlich fünf Meter rechts neben das Tor, dass er sich vor Lachen den Bauch halten musste. Ich traf dagegen dieses Mal dermaßen gut, dass Markus, der Unbezwingbare, wie er sich angeblich nannte, nichts dazu tun musste, um mir zu helfen. Leon aber blieb unbeeindruckt. Er lief zu Maxi, dem Mann mit dem härtesten Schuss auf der Welt, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Maxi zeigte sein berühmtes, lautloses, grinsendes Lächeln und mischte noch eine Prise Boshaftigkeit mit hinein. Dann nahm er Maß und lief an, schoss und donnerte das Leder wie an der Schnur gezogen direkt gegen das Lattenkreuz.
„Ooh!“ und Aaaaah!“, raunten die Wilden Kerle und kugelten sich danach vor Lachen. Das hatte Maxi extra gemacht und, verflixt noch mal, mir nahm es den letzten Rest Selbstbewusstsein, den ich noch hatte. Wie konnte ich nur erwarten, in so einer Mannschaft zu spielen, in der einer auf Ansage das Lattenkreuz traf? Aber ich hatte keine andere Wahl. Leon stand bereits vor mir und hielt mir den Fußball direkt vor die Nase.
„So, wer hat jetzt Angst und wer lacht als Letztes?“, fixierte er mich, und mir schossen als Antwort die Tränen gleich literweise in die Augen.
„Du hast es selbst in der Hand!“, fuhr Leon fort und genoss seine Macht. „Aber vielleicht möchtest du ja lieber ein bisschen heulen?“
Boh! Das saß, das kann ich euch sagen. Ich schloss meine Augen, um die Tränen zurückzuhalten. „Nein. Bitte nicht! Reiß dich zusammen!“, spornte ich mich noch einmal an. „Du bist Vanessa. Die Unerschrockene. So hat dich deine Mutter immer genannt. Also worauf wartest du noch?!“ Ich öffnete meine Augen, nahm den Ball aus Leons Händen und legte ihn auf den Elfmeterpunkt. Doch schon beim Zurückgehen, um Anlauf zu nehmen, spürte ich wie der Boden unter mir weich wurde. Als ich dann anlief, schlug er schon Wellen. Dazu kamen die brausenden Anfeuerungsrufe der Wilden Kerle , von denen keiner ehrlich und aufrichtig war. Und als ich mit dem rechten Fuß zum Schuss ausholen wollte, stürzte, alles, aber auch alles, die Wellen, die Rufe und schließlich mein ganzes Leben, fürchterlich tosend zusammen. Ich verlor das Gleichgewicht, trat neben den Ball und klatschte rücklings der Länge nach in den Dreck.
Danach war es wieder einmal ganz still.
Ich lag einfach nur da und wollte mich nicht mehr bewegen. Die Tränen quollen aus meinen Augen, und ich konnte es nicht mehr verhindern. „Sollen sie doch denken, dass ich eine Heulsuse bin“, dachte ich. Da trat Leon in mein Gesichtsfeld, und baute sich direkt vor mir auf. Sein Blick war vernichtend und kalt. Dann spuckte er aus, wie es Jungen wohl tun müssen, wenn sie glauben, dass sie schon Männer sind. Und dann brach er endlich das Schweigen: „Tja, was meinst du, Nessie. Hast du die Probe bestanden?“
Für einen Moment schaffte ich’s noch. Ich erwiderte seinen Blick und starrte ihn an, als wollte ich mich mit dem nächsten Atemzug auf ihn stürzen. Doch dann schoss eine Sintflut aus meinen Augen heraus. Ich sprang auf und rannte davon.
Das Traumduell
Ich rannte und rannte und rannte. Und nach endlosen Irrwegen in dieser verflucht neuen Stadt fand ich auch endlich das Haus, das seit gestern mein neues Zuhause sein sollte, und das für mich ab jetzt alles andere war. Ich hasste es. Ja, in diesem Moment hasste ich alles und
Weitere Kostenlose Bücher