Vanessa, die Unerschrockene
den Blick. Er wurde richtig traurig. „Das ist sehr schade, weißt du?“, sagte er dann und schaute mich wieder an. „Träume sind etwas sehr Kostbares. Die darfst du nicht aufgeben. Wenn du deine Träume aufgibst, verlierst du dich selbst. Dann gibt es dich nicht mehr. Schwups! Und du bist weg. Wie eine Seifenblase. Deine Mutter hat das gewusst. Deshalb hat sie das Haus hier gebaut. Obwohl sie sterben musste. Obwohl sie wusste, dass sie nie einziehen wird, war es ihr Traum, dass wir hier einmal wohnen. Schau dich doch um. Das ist das Haus deiner Mutter. Fühlst du das nicht? Vanessa, fühlst du die Kraft? Ja, und mit dieser Kraft wirst du es schaffen. Glaub es mir, bitte!“
„Ja, aber was soll ich denn tun?“, fragte ich ganz durcheinander.
„Was du tun sollst?“, gab mein Vater zurück. „Du sollst es den Wilden Kerle gefälligst zeigen. Ja, das sollst du. Fordere sie alle heraus: Fordere sie zu einem Geburtstags-Fußballturnier.“
„Aber die werden nicht kommen. Nie im Leben werden die das!“, widersprach ich noch mal.
„Doch das werden sie. Mach dir darüber mal überhaupt keine Sorgen“, grinste mein Vater. „Es kommt nur drauf an, wie man fragt.“
Ich wischte mir meine Tränen aus dem Gesicht. „Okay. Einverstanden“, lenkte ich ein. „Aber danach reden wir noch mal über Hamburg. Abgemacht?“
„Abgemacht“, nickte mein Vater. „Falls du dann überhaupt noch weißt, wo das liegt.“
Fies und so richtig gemein
Am nächsten Tag marschierte ich los. Ich hatte elf Einladungsbriefe dabei und war bester Laune. Deshalb ging ich auch nicht zum Bolzplatz, auf dem ich gleich alle Briefe mit einem Schlag losgeworden wäre, sondern ich ging zu jedem der Wilden Kerle nach Hause. Ja, das wollte ich so richtig genießen, und ich hatte mir die Reihenfolge meiner Besuche ganz genau überlegt.
Der Erste war Raban. Raban, der Held. Doch Raban sah gar nicht mehr wie ein Held aus, als er in der Rosenkavaliersgasse Nr. 6 vor mir in der Haustür stand. Er war das blanke Entsetzen. Und diesem blanken Entsetzen darüber, dass Mädchen absolut giftig sind, hielt ich mit einem Zuckerlächeln meine Geburtstagseinladung entgegen.
„Und, was glaubst du?“, fragte ich ihn mit genau diesem Lächeln. „Kannst du genug Mumm zusammenkratzen und kommen?“
Raban starrte auf den Briefumschlag vor seiner Nase. Dann starrte er mich an und dann schlug er die Tür vor mir zu. Ich zuckte die Achseln, steckte den Brief, den ich immer noch in der Hand hielt, in den Briefkasten und marschierte davon.
Es lief alles nach Plan. Raban war genau der richtige Mann. In den nächsten 30 Sekunden würde er die gesamte Mannschaft alarmieren, dass ich unterwegs sei, und danach würden sie, dass wusste ich auch, alle hinter den Fensterscheiben kleben und auf mich warten. Ich kam mir vor wie der Pac Man auf einem gigantischen Computerbildschirm und fraß mich vergnügt durch die Straßen zu meinem nächsten Opfer hindurch.
In der Alten Allee Nr. 1 riss Maxi, noch bevor ich die Klingel berührte, die Tür auf und mir den Brief aus der Hand. Dann schlug er die Tür sofort wieder zu und das mit einem Kopf, der so rot war, wie ’ne Supernova, die grad explodiert.
Danach ging ich zur Villa von Markus’ Eltern, die direkt neben dem Waisenhaus liegt, in dem Jojo wohnt. Er ist dort untergebracht, weil seine Mutter trinkt und keine Zeit für ihn hat. Ich wollte gerade wieder mal klingeln, da fuhr Markus mit seinem Vater in dessen pechschwarzer Limousine vor. Markus stieg aus und telefonierte via Handy mit Raban. Er wurde von ihm wohl gerade über mich informiert. Auf jeden Fall schenkte er mir keinen einzigen Blick. Er tat einfach so, als wäre ich gar nicht vorhanden und sprach durch mich hindurch direkt mit dem Butler, der in diesem Moment in der Haustür erschien. „Oh, Edgar, seien Sie so lieb. Ich bin wirklich in Eile. Können Sie die Post für mich annehmen?“
Damit verschwand er im Haus, aber nur für eine Nanosekunde. Dann steckte er den Kopf schon wieder neben dem Türpfosten raus und rief Edgar zu: „Ja, und den Brief für Jojo soll sie mir auch gleich mitgeben. Hast du gehört! Er steht nämlich schon hinter der Hecke und wartet!“
Edgar sah ihm kopfschüttelnd nach. Er wartete, ob Markus vielleicht noch mal auftauchen würde, dann drehte er sich um und grinste mich an: „Olala, Mademoiselle. Was ’aben Sie nür mit die Wildön Kerlö gemacht?“
„Nichts“, sagte ich und grinste zurück. „ Noch nichts!“ Dann
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