Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
Niemand hat sich eine Blöße gegeben.
An einem der nächsten Tage wird die Tochter allein zum Onkel geschickt. Mit der Weisung, heute besonders lieb zu Onkel Ulrich zu sein. Deutlicher muss der Vater nicht werden, die Tochter kennt die Sprachgebung genau.
Auf diese Weise hat niemand etwas gesagt, niemand hat die Verantwortung, niemand hat Schuld.
Nur die Tochter natürlich.
Denn schließlich hat sie mal wieder angefangen. Das sagen sie alle. Immer wieder. Bis sie es glaubt.
Und wer weiß, denkt der Vater, vielleicht braucht man den Schwager ja noch mal. Ihn und seine Verbindungen zur Justiz.
Heute aber ist Ostern.
Endlich sind alle fertig. Die Männer stehen vor dem Flurspiegel und kämmen sich die Haare. Dabei bürstet die Mutter dem Vater noch schnell die Schuppen vom Mantelkragen. Er hilft ihr in den Nerz. Sie steckt Angela ein frisches Taschentuch in die Manteltasche.
»Wo ist Ulrich wieder hin?«
»Kommt ihr nun endlich?«
»Wo habe ich denn nur wieder meine Handtasche hingelegt?«
»Es ist doch immer dasselbe mit ihr.«
»Darf ich meinen Osterhasen mitnehmen?«
»Nein.«
»Hast du schon wieder die kaputten Schuhe an? Grausam!«
Kaputten Schuhe an …
Kaputten Schuhe an …
Schließlich gehen sie alle zusammen einträchtig zur Kirche, die Erwachsenen und die Kinder.
Dabei erzählen sie sich, wie wohl so ein kleiner Spaziergang doch tut. Wie gut das ist, wenn die Frühlingsluft ihre Lungen durchpustet, geradewegs ins Blut geht, das Gehirn entstaubt und den ganzen Körper mit Energie auflädt.
Und dann lachen sie herzlich.
»Gerade heute«, sagt ein Onkel einigermaßen galant, »bevor wir uns nachher wieder den Magen vollschlagen mit dem köstlichen Braten der großzügigen Hausfrau.«
»Seht nur«, sagt eine Tante, »die Forsythien fangen an zu blühen!« Und gemeinsam schauen sie auf die frischen Knospen, die kurz vor dem Aufplatzen sind. »Oh, und schaut, die Magnolien, was eine Pracht.«
Auch die Kätzchen hängen schon von den Birken und schaukeln im Wind. Welch seltsame Frucht.
»Vom Eise befreit sind Strom und Bäche …«, hebt nun einer der Onkel an. Ein Osterspaziergang mit der ganzen Familie. Und schon sind sie an der Kirche angelangt.
Ein Tumult bricht los in Angelas Innerem, als sie das Kirchenportal durchschreiten. Eine Höllenangst.
Die Kerzen, denkt Endora, sie brennen, jetzt geht es los wie beim letzten Mal!
Angela dreht sich um und will weglaufen.
»He, hiergeblieben«, sagt der Bruder der Mutter, der die ganze Zeit neben Angela gegangen ist, fasst sie um die Taille, hebt sie in die Luft und schwenkt sie, dass das Röckchen fliegt.
»Was ist denn nun schon wieder los?« Die Mutter ist gereizt. Jetzt hat ihre Tochter ihre Show, so dass sie allen Männern die Köpfe verdrehen kann, und schon spielt sie sich wieder auf, das kleine Biest.
Endora kennt diese Menschen nicht. Und überhaupt: Sie tragen ja gar keine Kutten. Der, der sie hochhebt, lacht sogar fröhlich. Dann war es wohl ein Irrtum.
Sie verschwindet wieder.
»Was ist denn los?«, fragt der Vater, greift nach der Hand der Tochter, hält sie ganz fest, und ohne ihre Antwort abzuwarten, bringt er sie gleich zum Pastor, damit sie die letzten Instruktionen erhalten kann und nichts schiefgeht.
»Nun, mein Kind, das ist schön, dass du da bist«, sagt der Pastor. Schon in seinen Talar gekleidet, sitzt er in der Sakristei auf einem schweren alten Holzstuhl.
»Komm zu mir, mein Kind«, sagt er, und seine Stimme klingt sanft. »Bevor du gleich dein Ehrenamt erfüllen darfst, wollen wir noch schnell sehen, ob du in der Kinderkirche auch immer gut aufgepasst hast.«
Lächelnd bleibt der Vater im Türrahmen stehen, während der Pastor Angela zu sich heranzieht, so dass sie den Rock seines Talars berührt.
»Kinderkirche«, das ist Magdalenas Stichwort. Jahrelang ist sie dorthin – und zum Privatunterricht – gegangen und hat eifrig gelernt, was man als kleines christliches Mädchen alles wissen muss. Sie kennt die Prüfung, die jetzt folgt, seit langem.
»1. Korinther 7,4«, sagt der Pastor und legt ihr seine linke Hand auf den Kopf.
»Das Weib ist ihres Leibes nicht mächtig, sondern der Mann«, plappert Magdalena los.
»Richtig.«
Die Männer lächeln sich an.
»1. Korinther 14,34.«
»Wie in allen Gemeinen der Heiligen …«
»Gemein den , Angela, Gemein den heißt es! Noch mal.«
»Wie in allen Gemeinden der Heiligen, lasset die Weiber schweigen in der Gemeinde; denn es soll ihnen nicht zugelassen
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