Vatikan - Die Hüter der Reliquie (German Edition)
geantwortet. Ich hielt meine Ohren zu und schloss meine Augen. Das Spektakel war fast noch grauenerregender als das Gemetzel, dem ich eben beigewohnt hatte.
»Was habt Ihr dann gemacht, Miguel?«, rief eine diamantbesetzte Dame von der unteren Tafel.
»Was ich gemacht habe? Ich habe sie gesucht. Ich habe nach meiner Mutter gesucht, so wie es jeder anständige Sohn gemacht hätte.«
Ich hob meinen Kopf. War das wahr? Hatte er mich wirklich gesucht? Wäre es damals vielleicht noch nicht zu spät gewesen, ihn vor dem zu retten, was er jetzt darstellte?
»Wie rührend!«, säuselte eine weitere Dame. Es handelte sich um die, die ich vorhin als zu dick befunden hatte. Sie tupfte sich eine imaginäre Träne aus dem Augenwinkel.
»Ich machte mich auf die Suche«, sagte Miguel, als wieder Ruhe eingetreten war. »Zunächst stattete ich Vikar Alvarez einen Besuch ab. Pater Laurentius begleitete mich, wenn auch nicht ganz freiwillig.« Miguel grinste.
»Der Vikar wurde schnell redselig. Er erzählte mir alles. Wie Ihr Euch gewehrt habt, als man mich Euch wegnahm. Wie Ihr gelebt habt. Dass er Euch keine Sünde anhängen konnte, auch wenn er stets ein Auge auf Euch und diese schlitzohrige Schwester Theresa hatte. Aber …«
»Ich verbiete Euch, so über die Oberin und meine Freundin zu sprechen.« Mein Zorn war, seitdem der Name Alvarez gefallen war, gewachsen. »Mag sein, dass Euch das Kloster nicht den rechten Weg weisen konnte. Doch urteilt nicht über Theresa. Es widert mich an, was Ihr sprecht. Wer seid Ihr, dass Ihr glaubt, Ihr könntet Euch über die Kirche und Gottes Liebe hinwegsetzen?«
Betretene Stille legte sich über den Saal. Im selben Augenblick wurde mir klar, dass ich mich in großer Gefahr befand. Miguel zuckte nur die Achseln. »Mütter.« Er seufzte und lachte gleich darauf. Glockenhell erklang sein Gelächter, in das alle einstimmten.
Alle, außer mir und Argyle. Ich erhob mich. »Ich möchte zu Lisette.«
»Aber gern doch.« Miguel drehte sich zu mir und fuhr sich über sein Gesicht. »Ich habe keinerlei Einwände. Ob sie allerdings Euch sehen möchte, das steht auf einem anderen Blatt.« Miguel lächelte teuflisch.
Mac Quiet hatte sich ebenfalls erhoben. »Ich werde sie hinbringen.«
Wir verließen den Saal und ich atmete tief aus. Ich wünschte mich weit weg. Dorthin, wo niemand meine Gedanken lesen konnte und sich niemand über wehrlose Menschen hermachte. Wenn es Lisette gut ging, wollte ich sofort in ein Kloster eintreten. Wenn sie wollte, würde ich sie mitnehmen. Mac Quiet sagte den ganzen Weg über nichts. Er schien ebenso in Gedanken versunken. Dann zeigte er auf eine Tür und nickte.
Leise trat ich ein. Es war mitten in der Nacht und darum nahm ich an, dass Lisette schlief. Sie schlief nicht, sondern saß in einem Sessel und hielt ein Kreuz in der Hand.
»Was willst du?« Lisettes Stimme war durch das Alter rau geworden.
»Ich wollte nach dir sehen.« Ich erkannte sie kaum wieder.
»Ah, noch so eine Ausgeburt der Hölle.« Sie setzte sich, wenn es möglich war, noch aufrechter hin und starrte mir entgegen. Immerhin hatte man sie am Leben gelassen. Doch warum? Weil sie Miguels Tante war? Ich blieb im Schatten des Raumes, noch wollte ich nicht, dass sie mich erkannte.
»Geht es dir gut, Lisette?« Ich wusste nicht, was ich machen oder sagen sollte.
»Ob es mir gut geht? Natürlich geht es mir gut, wenn man davon absieht, dass ich Gefangene im eigenen Haus bin.« Ich trat ein Stück vor. So gern wäre ich zu ihr geeilt und hätte sie in die Arme genommen. Ihre nächsten Worte machten mir klar, dass ich das nie wieder tun konnte.
»Wenn man vergisst, dass man von einer Brut umgeben ist, die aus der Hölle stammt. Wenn man das alles vergisst, geht es mir gut.« Verbitterung und Hohn schlugen mir entgegen.
Ich konnte ihr nicht widersprechen. Ich konnte ihr noch nicht einmal versprechen, etwas an dem Zustand zu ändern.
»Komm näher, Mädchen, du erinnerst mich an jemanden.«
Ich trat einen Schritt vor.
»Nicht zu nah.« Sie hob das Kreuz. Lisette betrachtete mich, genau wie ich sie. Sie war fünfzig Jahre alt und immer noch schön, wenn man von der Trauer in ihrem Gesicht absah.
»Du ähnelst meiner Schwester Lucienne.« Sie seufzte.
Ich jubilierte. Sie hatte mich ihre Schwester genannt. Dann hatte sie mir am Ende verziehen?
»Aber du bist viel zu jung. Sie war die Ältere von uns. Sie hätte nie zugelassen, dass das hier alles passiert.« Lisette machte eine allumfassende
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