Vellum: Roman (German Edition)
weiß dabei selbst nicht, ob er ihn herausziehen oder tiefer hineindrillen soll. Er spürt das Prickeln der Bitläuse, die ihm über die Hand krabbeln.
»Gibst du mir die Schuld an deinem Leiden?«, fragt er.
»Ich gebe all jenen die Schuld, denen ich einst gedient habe, denn sie haben mich verraten.«
Metatron blickt Seamus Finnan tief in die Augen, durch sie hindurch. Die Verbindung ist jetzt hergestellt, die Prägung vollendet. Es spielt keine Rolle, dass dieser kleine Ire erst vor etwas mehr als einhundert Jahren in irgendeinem Dubliner Slum oder irgendwo im Sumpf in der Provinz geboren wurde; es ist gleichgültig, dass er diesem Mann vor ein paar Jahren in einem Trailer-Park mitten in der Mojave zum ersten Mal begegnet ist; das ist die physische Wahrheit, und hier zählt nur die metaphysische. Metatron blickt ihm in die Augen und spürt eine Träne in den eigenen, denn er erkennt einen alten Freund, einen alten Kameraden, der im Laufe der letzten Jahrtausende so sehr ein Teil des Vellum geworden ist, dass er überall zum Vorschein kommt, in allem und jedem. Und er war immer ein Idealist. Ein großartiger närrischer Idealist, den Metatron nie wirklich hassen konnte. Nein, hassen konnte er ihn nie. Nicht Seamus. Nicht Schamasch. Nicht Samael.
Sollen sie doch kommen
»Du tobst und schimpfst wie ein Wahnsinniger«, sagt Metatron. »Du bist krank im Kopf.«
»Jawohl, krank und wahnsinnig«, sagt Seamus. »Krank vor Hass, wahnsinnig vor Wut. Aber vielleicht hast du ja ein Heilmittel für mich, alter Freund?«
Metatron schüttelt den Kopf. Immer das Gleiche. Der einstmals strahlende Unkinavatar des Sonnenlichts, Seamus Schamasch, der Gott des sumerischen Sommers, ist zerrüttet und verbittert.
»Würdest du nicht leiden, wärst du unerträglich.«
»Habt Erbarmen«, knurrt Seamus. »Oder kennt der Konvent dieses Wort nicht? Mit der Zeit wird es euch vertraut werden, das verspreche ich euch.«
»Du kannst noch immer nicht den Mund halten.«
»Das stimmt, sonst hätte ich auch nicht mit einem Sklaven gesprochen. Wer hat denn jetzt die Zügel in der Hand, Enosch? Denn in drei Teufels Namen, es ist ganz sicher nicht derjenige, der die Gerechtigkeit so sehr geliebt hat, die Vorstellung von Gerechtigkeit und Weisheit und Erbarmen – auch Erbarmen, verdammte Scheiße –, dass er sie seiner Seele aufgeprägt, sein Ich auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt hat, nur um jetzt zu versuchen, mit der Welt dasselbe zu tun. Was ist mit dir passiert, Enosch? Und mit dem Konvent? Habe ich nicht Recht mit dem, was ich sage?«
»Nein!«
Metatron bemerkt, dass er zittert. Er wusste von Anfang an, dass dies ein riskantes Unterfangen sein würde und dass es in gewisser Hinsicht zum Scheitern verurteilt wäre. Sie können nicht anders, es sind die Archetypen, die ihnen eingebrannt sind – das neue Ich, das er für sie geformt hat, gleicht dem aller anderen Unkin des Konvents. Vom niedrigsten Sebettu bis zum ranghöchsten Seraph. Metatron und Samael haben sich nie voneinander unterschieden, also wusste er von Beginn an, dass er auf seine Fragen keine Antwort erhalten würde, nicht vom ersten Todfeind des Konvents – der Mann, der sich des Wortes ›Schaitan‹ bemächtigt und ihm eine völlig neue Bedeutung verliehen hat. Feind. Satan.
Aber er ... er ist jemand, der logisch denkt und handelt, der großen Wert auf Vernunft legt, und er hat nie verstanden, warum sich Samael von ihnen abgewandt hat, und wenn er es nicht verstehen kann, dann kann er es auch nicht in sein systematisches Modell der Wirklichkeit und der Menschheit einordnen, dann ...
»Also wirst du uns geben, worum wir dich bitten?«
»Ich werde euch alles zurückzahlen, was ich euch schulde. Darauf könnt ihr euch verlassen.«
»Sprich nicht mit mir, als sei ich ein Kind!«
»Ach, du bist kein Kind?«, erwidert Seamus mit schriller Stimme. »Du bist sogar noch naiver als ein Kind, wenn du glaubst, dass ihr etwas von mir erfahren werdet.«
Er windet sich in seinen Fesseln, verzieht vor Schmerzen das Gesicht, stemmt sich hoch und Metatron entgegen, sodass sich der Fleischerhaken noch tiefer in seine Brust bohrt – und Metatron reißt entsetzt die Hand zurück.
»Kein Deus kann sich irgendwelche Foltermethoden ausdenken«, sagt Seamus, »um mich zum Reden zu bringen, bevor du mich nicht von diesen Fesseln befreist. Schick Gabriel. Lass ihn seine Flammen auf mich schleudern. Oder schick Michael und Uriel und Azazel. Sollen sie
Weitere Kostenlose Bücher