Velvet Haven - Pforten der Finsternis - Renwick, S: Velvet Haven - Pforten der Finsternis - Mists of Velvet - The Immortals of Annwyn Book Two
mehrfach auf ihren Streifzügen durch die Wälder gesehen. Der fast quälend schöne Gesang hatte sich ihr ins Gedächtnis geprägt, denn jedes Mal, wenn sie den Zaunkönig sah, hatte sie hinterher eine Vision von ihrem Geliebten, dem Geliebten aus ihren Träumen, gehabt, der, so wurde ihr nun klar, dazu bestimmt war, ihr Gefährte zu sein.
»Man hat mir erzählt, du hättest ein Schweigegelübde abgelegt.«
Sie widerstand dem Drang, den Blick von dem König abzuwenden, und nickte stattdessen. Er sah auf sie herab, beobachtete sie und betrachtete sie eingehend, so als wäre sie eine seltsame neue Art von Kreatur, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte.
»Du hast etwas an dir, meine Kleine. Irgendwie kommst du mir bekannt vor«, sagte er leise. »Ich kann die Erinnerung fast greifen, doch jedes Mal, wenn ich die Hand danach ausstrecke, entzieht sie sich mir, wie ein Nebel.«
Bronwnn ließ zu, dass er ihr Kinn drehte, damit er sie von allen Seiten betrachten konnte. »Bist du jemals im Velvet Haven gewesen?«
Sie schüttelte vehement den Kopf. Selbstverständlich hatte sie davon gehört, doch hatte sie sich auf ihren kleinen Spaziergängen in die Wälder nie weiter vom Tempel entfernt als bis zu der kleinen Hütte, die sie vor Cailleach geheim gehalten hatte.
Er ließ ihr Kinn los und erlaubte ihr, einen Schritt zurückzutreten. Ihre Hände zitterten nicht länger, wie sie feststellte, als sie sich damit über das weiße Gewand wischte.
»Cailleach hat mir mitgeteilt, du seist die Schreiberin des Ordens. Deine Visionen sind Prophezeiungen.«
Sie legte den Kopf schief und hoffte, dass er sie nicht fragte,
woher ihre Visionen kamen. Dieses Geheimnis würde sie nämlich niemals preisgeben.
»Ich spüre etwas in dir. Große Macht. Ich frage mich, ob Cailleach dies auch fühlt. Ist das der Grund, weshalb sie dich dem Schattengeist zum Geschenk machen möchte?«
Er dachte nun laut. Eine Antwort von ihr erwartete er aber nicht. Und dafür dankte sie der Göttin, denn sie hätte nicht gewusst, was sie darauf hätte erwidern sollen.
»Du hast gehört, wie ich meine Krieger beim Namen genannt habe. Was hältst du von meiner Wahl?«
Statt einer Antwort erhielt er lediglich ein Schulterzucken. Sie wusste kaum etwas über die Dinge außerhalb ihrer Welt. Sie wusste nur, was ihre Visionen vorausgesagt hatten – dass es neun Krieger sein würden, einer von ihnen der Zerstörer; ein überaus mächtiger Lehrling des schwarzen Magiers, der entweder Annwyn und das Reich der Sterblichen oder eben jenen Meister, dem er diente, vernichten würde.
Der König schien zu verstehen, auch wenn sie schwieg. »Sag mir, weißt du, wer von den Neun Annwyn verraten wird?«
Heftig schüttelte sie den Kopf, in der Hoffnung, er werde sehen, wie ernst sie es meinte.
Er seufzte, blickte sie aber freundlich an. »Wir sind Verbündete, oder nicht?«, fragte er, während er ihr die Hand entgegenstreckte. »Ich werde dich beschützen. Wenn es sein muss, auch vor Cailleach. Ich verlange dafür nur, dass du mit sämtlichen neuen Visionen, die uns helfen könnten, zu mir kommst. Du darfst mir vertrauen, Bronwnn. Ich gebe dir mein Wort – mein Ehrenwort. Und das sage ich nicht leichthin. Doch in diesem Punkt kannst du mir vertrauen.
Ich werde nicht zulassen, dass du leidest, nicht wegen des Schattengeistes und auch nicht wegen Cailleach.«
Sie lächelte und fühlte sich vor Freude ganz leicht. Im König hatte sie einen Verbündeten gefunden. Als er sich von ihr entfernen wollte, griff sie nach seiner Hand und hielt sie ganz fest in der ihren. Dann drehte sie seine Handfläche nach oben und fuhr die Linien mit den Fingerspitzen nach, wobei sie die Augen geschlossen hielt.
Er suchte nach seinem Bruder, und da schwor Bronwnn, dass sie ihn mit allem beschenken werde, was sie in ihren Visionen sah. Wenn der König schon einen Eid schwor, dass er sie vor Cailleach beschützen wolle, dann war dies das Mindeste, was sie für ihn tun konnte.
Bilder von Wasser drängten sich ihr auf – ein langer, gewundener Fluss, der sich durch die Dunkelheit schlängelte. Ein Tunnel? Eine Höhle? Ein Pfad? Es war eine Art Höhle, verziert mit seltsamen Symbolen, die nicht aus ihrer Welt stammten; doch der Fluss war in Annwyn zu finden.
Sie schlug die Augen auf und begegnete seinem Blick. Dann aber ließ sie ihre Hand in der kleinen Tasche verschwinden, die an ihrer Seite baumelte, und zog das Notizbuch daraus hervor, mittels dessen sie sich mit Cailleach
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