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Venezianische Verlobung

Venezianische Verlobung

Titel: Venezianische Verlobung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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vorsichtshalber.
    «Das ist ein Wassertor», bestätigte Sergente Bossi seine Vermutung. «Dahinter liegt der Rio della Verona.»
    «Gibt es außer diesem Wassertor und dem sottoportego noch einen Zugang zum Hof?»
    Bossi schüttelte den Kopf. «Nein.»
    «Und wo ist die Wohnung?»
    «Auf der rechten Seite, Commissario.»
    Die Auskunft war überflüssig, denn bevor Bossi den Satz  beendet hatte, trat ein weiterer Sergente aus der Tür auf der rechten Seite des Flurs und salutierte, als er Tron erkannte.
    Von der Türöffnung aus sah Tron Sergente Vazzoni in  einer Position, in der er ihn nicht zum ersten Mal antraf, nämlich über den reglosen Körper einer Toten gebeugt.
    Der Sergente erhob sich beim Eintreten Trons und salutierte flüchtig. «Anna Slataper», sagte er, Trons Frage vorwegnehmend. «Sie wurde vor einer Stunde von einer Signora Saviotti entdeckt. Signora Saviotti kam alle zwei Tage in die Wohnung, um sauber zu machen und die Wäsche zu waschen. Als Signorina Slataper heute nicht öffnete, hat sie ihren Schlüssel benutzt. Sie ist sofort zur Wache an der Piazza gelaufen, nachdem sie gesehen hatte, was hier passiert war.»
    Die Tote lag auf dem Rücken und trug ein geblümtes  Kleid, dessen Mieder halb aufgerissen war. Jemand hatte eine Serviette über ihren Kopf gebreitet, aber offenbar nicht in der Absicht, entstellende Gesichtsverletzungen zu verdecken, denn die weiße Serviette wies keinerlei Blutflecken auf.
    Stattdessen war unter ihrer rechten Schulter ein handtellergroßer dunkler Fleck auf dem Terrazzofußboden zu erkennen, der wahrscheinlich aus getrocknetem Blut bestand. Da die Vorderseite der Leiche keine sichtbaren Verletzungen aufwies, vermutete Tron, dass der Mörder der Frau ein Messer in den Rücken gestoßen hatte. Er hätte Vazzoni bitten können, die Leiche umzudrehen, um seine Vermutung bestätigt zu sehen, aber er hielt es für besser, auf Dr. Lionardo zu warten, der jeden Moment eintreffen musste.
    «Wo ist diese Signora Saviotti?», erkundigte er sich.
    «Drüben im Wohnzimmer.» Der Sergente wies mit der  Hand über Trons Schulter hinweg auf eine der beiden Tü ren, die von dem Raum abgingen.

    «Und wohin führt die andere Tür?»
    «Ins Schlafzimmer.»
    «War Signora Saviotti allein, als sie die Leiche entdeckt hat?»
    Vazzoni nickte.
    «Und sie hat …»
    Vazzoni musste das Ende der Frage nicht abwarten. «Die  Wohnung abgeschlossen, als sie zur Wache gelaufen ist.»
    «Haben Sie sie bereits vernommen?»
    Vazzoni schüttelte den Kopf. «Ich hab sie das Nötigste  gefragt. Ich dachte, Sie würden Wert darauf legen, als Erster mit ihr zu sprechen, Commissario.»
    «Hat irgendjemand etwas angefasst, seit die Leiche entdeckt wurde?»
    Der Sergente beschränkte sich darauf, leicht indigniert den Kopf zu schütteln.
    «Ist eingebrochen worden?»
    «Nein.»
    «Und das Tuch?», erkundigte sich Tron.
    Vazzoni schob die Unterlippe vor, um zu signalisieren,  dass er diese Frage für überflüssig hielt. «Das habe ich auf ihr Gesicht gelegt, Commissario.»
    Tron deponierte seinen Zylinder und seinen Spazierstock auf dem Tisch und zupfte sich die Handschuhe von  den Fingern. Dann kniete er vorsichtig neben der Leiche nieder. Als er das Tuch vom Gesicht der Toten gezogen hatte, fuhren seine Augenbrauen erstaunt nach oben.
    Auf diesen Anblick war er nicht gefasst gewesen – nicht auf eine junge Frau, die selbst im Tod und trotz ihrer starren, weit geöffneten Augen noch außergewöhnlich schön war. Ihre Augen, die jetzt ihren Glanz verloren hatten, waren braun und sehr dunkel, sodass die Pupillen sich kaum  vom Hintergrund der Iris abhoben. Sie hatte eine Haut,
    glatt und eben wie Porzellan, dazu dichtes, langes Haar, das wie gemalt auf dem Teppich lag und ihren Kopf wie ein Kranz umschloss. Tron schätzte sie auf höchstens zwanzig.
    Er erhob sich langsam und blickte sich um – nahm sozusagen die mise en scène in Augenschein.
    Der Raum, in dem er stand, diente offenbar als Woh nungsflur und Küche zugleich. Es gab ein Fenster zum Hof (dessen Vorhänge geschlossen waren), darunter ein gemauerter Herd und daneben eine offene Kiste mit Feuerholz. Ein schlichtes Regal neben der Wohnungstür, auf dessen Holzbretter Papier gebreitet war, diente zur Aufbewahrung von Geschirr. Alles wirkte sauber und aufgeräumt, ließ weder auf große Armut noch auf großen Reichtum schließen.
    Was für ein Leben hatte sie hier geführt? Welcher Arbeit war sie nachgegangen? Hatte sie Freunde gehabt?

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