Venezianische Verlobung
manikürten Zeigefinger kurz auf Sergente Bossi zu richten, dem er selbstverständlich keinen Stuhl angeboten hatte.
Das mit dem Dienstweg, musste Tron zugeben, stimmte.
Der korrekte Dienstweg wäre über den Stadtkommandan ten und das Außenministerium verlaufen. Und er hätte mindestens ein halbes Jahr gedauert. Natürlich wusste Gutiérrez das.
Der Schreibtisch des Botschafters stand im Empfangszimmer der Fürstensuite, die sich auf drei luxuriöse Räume im obersten Stockwerk des Danieli erstreckte. An einem klaren Tag hätte man durch die Fenster einen spektakulären Blick auf das Becken von San Marco und die Isola San Giorgio gehabt, aber heute beschränkte der Nebel die Aussicht auf die Takelage eines griechischen Lastenseglers und die Signalmasten zweier Lloyddampfer, die an der Riva degli Schiavoni festgemacht hatten.
Tron, der auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz genommen hatte, beantwortete den frostigen Blick des Botschafters mit einem Lächeln. «Es handelt sich um eine junge Frau. Ihr Name ist Anna Slataper. Wenn meine Informationen stimmen, haben Exzellenz die Signorina gekannt.»
«Habe ich das?» Gutiérrez’ Gesicht blieb regungslos. Nur seine linke Augenbraue zog sich ein wenig nach oben.
Eigentlich hatte Tron mit einem älteren Herrn gerechnet, einem Mann, der ebenso schnurrbärtig-mexikanisch
aussah wie Señor González, der junge Sekretär des Botschafters, der ihn und den Sergente in die Suite gelassen hatte. Tatsächlich aber war Gutiérrez höchstens vierzig und im Gegensatz zu seinem schnurrbärtigen Adlaten glatt rasiert. Obwohl der Botschafter ruhig auf seinem Stuhl saß, vermittelte er durch seine hagere, trainierte Gestalt den Eindruck großer körperlicher Gewandtheit. Er trug einen kordelumgürteten Morgenmantel, und das seidene Tuch um seinen Hals wurde durch eine Nadel zusammengehal ten, auf der ein Brillant von geradezu obszöner Größe
prangte. Auf seinem Schreibtisch standen die Reste eines Frühstücks, daneben, in einem Eiskübel, eine Flasche Veuve Clicquot.
Tron lehnte dankend ab, als Gutiérrez die Flasche aus dem Kübel zog, um sein eigenes Glas wieder zu füllen. «Es gibt einen Zeugen», sagte Tron, «der Exzellenz zusammen mit Signorina Slataper gesehen hat, als Exzellenz am letzten Sonntag die Abendmesse in Santa Maria Zobenigo verlassen haben.»
Gutiérrez’ Miene war immer noch völlig ausdruckslos.
Entweder hatte er nichts zu verbergen, oder er verfügte über eine erstaunliche Selbstkontrolle. Er nippte an seinem Glas und sah Tron gelangweilt an. «Sind Sie gekommen, weil ich mit einer jungen Dame eine Abendmesse besucht
habe?»
Tron wartete ein paar Sekunden, bevor er seine Antwort
auf den Botschafter niedersausen ließ. Er sagte: «Signorina Slataper ist ein paar Stunden später ermordet worden.»
Das saß. Gutiérrez richtete sich kerzengerade auf. Einen Moment lang sah er aus wie jemand, der sich an einem unsichtbaren Hindernis gestoßen hat. Seine Augenbrauen hüpften nach oben. «Was ist passiert?»
«Signorina Slataper ist heute Mittag in ihrer Wohnung
gefunden worden», sagte Tron. «Sie wurde erstochen.»
«Wer hat sie erstochen?» Der Botschafter zog ein Zigarettenetui aus der Seitentasche seines Morgenmantels und zündete sich eine Zigarette an.
«Das weiß ich nicht. Wie gut haben Exzellenz Signorina
Slataper gekannt?»
Gutiérrez warf Tron einen misstrauischen Blick zu. «Ich kannte sie kaum. Wir haben uns erst letzten Mittwoch rein zufällig kennen gelernt. Die Señorita ist in der Calle Vallaresso von einem Mann belästigt worden.»
«Was wollte der Mann von ihr?»
«Der Bursche war offenbar betrunken.» Gutiérrez zuckte
die Achseln. «Señorita Slataper hat mir dann gestattet, sie nach Hause zu begleiten.»
«Und wie kam es zu dem Treffen am Sonntag?»
Gutiérrez schenkte sich Champagner nach. «Die Señorita
hatte mir erzählt, dass sie die Abendmesse besucht. Wir sind locker verabredet gewesen.»
«Haben Exzellenz sie an diesem Abend nach Hause gebracht?»
Gutiérrez nickte. «Ja, das habe ich.»
«Wann ungefähr sind Sie am Rio della Verona gewesen?»
«Gegen neun.»
«Von der Zobenigo bis zur Wohnung von Signorina
Slataper geht man höchstens fünf Minuten.»
«Señorita Slataper wollte noch einen Spaziergang zur
Piazza machen.»
«Bei dem Wetter?»
«Es war trocken. Wir hatten nur ziemlich dichten Nebel.»
«Kein ideales Wetter für einen Spaziergang.»
«Señorita Slataper hatte den
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