Venezianische Verlobung
gegeben.
Bei den Abgängen war kein System zu erkennen, und sie fragte sich, wie lange sie hier noch auf dem kalten Fußboden sitzen musste.
Das Problem war, dass ihre Zeit knapp wurde. Als die Carabinieri sie vor knapp zwei Stunden auf der Piazza erwischt hatten, war es neun gewesen. Inzwischen war es kurz nach elf (die elf Glockenschläge von San Lorenzo waren deutlich zu hören gewesen), und wenn sie nicht um eins zum Essen auftauchte, würde sie ein paar unangenehme Fragen beantworten müssen. Katastrophal wäre, wenn zwei Carabinieri sie gar zu Hause abliefern würden. Signora Zuliani würde ausrasten und sich gemeine Strafen im Dutzend ausdenken – das einzige Gebiet, auf dem sie ein wenig Phantasie entwickelte. Oder – das war die schlimmste aller Möglichkeiten – man brachte sie wieder zurück ins Istituto delle Zitelle. Womöglich in die berüchtigte Spezialabteilung, in der es wie in einem Gefängnis zuging. Sie durfte gar nicht daran denken.
Angelina Zolli zog die Knie an ihr Kinn und biss sich wütend auf ihre Unterlippe. Das alles war so schrecklich ungerecht. Schließlich hatte sie diese verdammte Brieftasche nicht gezogen, sondern nur aufgehoben.
Sie registrierte, dass der Mann zu ihrer Rechten sich aus der dumpfen Betrachtung seiner Schuhe gelöst hatte und sein Kinn hob. Er grunzte, drehte den Kopf und warf einen fragenden Blick auf die grell geschminkte Frau, die links von ihr saß. Offenbar kannten sich die beiden. Die Frau nickte, zog eine kleine Flasche aus einem Beutel, der auf ihrem Schoß lag, und reichte sie dem Mann. Der nahm einen kräftigen Schluck, rülpste herzhaft und gab ihr die Flasche umgehend zurück, zusammen mit einer kleinen Münze – offenbar ein kleines Geschäft unter Freunden.
Angelina Zolli musste plötzlich lachen. Als sie aufstand, wunderte sie sich, warum sie nicht schon früher auf diese Lösung gekommen war. Sie strich ihr Kleid glatt und drängte sich durch die Menge hindurch zur Zellentür.
Dann schlug sie dreimal mit der Faust an das Holz, wartete ein paar Augenblicke, und als niemand öffnete, hämmerte sie erneut dreimal gegen die Tür.
Der Sergente, der schließlich erschien (sie hatte ihr Hämmern wiederholen müssen), starrte wütend auf sie herab, aber das konnte ihr egal sein. Sein rundes Tortenbä ckergesicht war gelbstichig und erinnerte sie an ein Rührei.
Sie ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen.
«Ich habe eine Aussage zu dem Mord am Rio della Verona zu machen», sagte sie mit fester Stimme. Und fügte noch hinzu: «Ich möchte den zuständigen Commissario sprechen.» Sie hatte keine Ahnung, ob es hier in der questura einen zuständigen Commissario gab, aber auf jeden Fall hörte es sich gut an.
Das hatte sie von Pater Maurice gelernt: sich bei Prob lemen gleich an den Chef zu wenden. Der Pater schrieb immer direkt an den Vatikan, wenn ihm etwas in seiner Kirche nicht passte. Als sie das verdutzte Gesicht des Sergente sah, überlegte sie, ob es nicht besser gewesen wäre, ein Gespräch mit dem Polizeipräsidenten zu verlangen.
Tron stand am Fenster seines Büros in der questura und starrte auf den nebelverschleierten Rio di San Lorenzo hi nab, auf dem sich ein dunkler Schatten langsam von links nach rechts bewegte. Eine Gondel? Ein Dinosaurier? Lohengrin? Aus dem Bellen, das aus dem Schatten zu seinem Fenster empordrang, schloss Tron, dass es sich um eine Gondel oder einen sandalo gehandelt hatte. Mit einem Hund an Bord.
Seine rechte Hand ruhte auf dem Fensterbrett, die linke hielt den zu einer Röhre zusammengerollten Bericht Bossis, den er heute auf seinem Schreibtisch vorgefunden hatte.
Seitdem Bossi sich auf die Inspektorenprüfung vorbereitete, war der Sergente dazu übergegangen, seine Berichte an Tron – der Übung halber – in schriftlicher Form abzugeben. Das kam Trons Bevorzugung des Schriftlichen entgegen, zumal der Sergente über eine gut lesbare Anglaise verfügte. Tron hatte hin und wieder ein Komma korrigiert und die Schreibweise eines Wortes verbessert, aber im großen Ganzen bestätigte sich sein Eindruck, dass der Sergente den schriftlichen Teil der Prüfung mit Bravour bestehen würde.
Der Bericht Bossis hielt in angenehmer, leicht altertümlicher Kanzleisprache fest, dass Gutiérrez, der seinen ständigen Wohnsitz in Rom hatte, seit ungefähr einem Jahr alle sechs bis acht Wochen nach Venedig kam und jedes Mal im Danieli abstieg. In diesem Zeitraum hatte der Botschafter die Lagunenstadt
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