Venezianische Verlobung
die Brieftasche weggeworfen.»
Sich also so verhalten wie die meisten Venezianer, was man ihr kaum zum Vorwurf machen konnte.
«Und der Mord am Sonntag?» Tron nahm, um irgendetwas zu tun, einen kleinen Stapel Akten von der linken Seite seines Schreibtisches, schichtete ihn vor sich auf und strich mit der Hand darüber, ganz vorsichtig, so als wäre das Papier aus Blattgold. Er sah sie an. «Was weißt du darüber?»
Als sie schwieg, hatte Tron einen Augenblick lang die Befürchtung, dass dies alles auf einem Missverständnis beruhte.
Doch dann sagte sie: «Ich habe den Mörder gesehen.»
Trons Kaffee hatte sie abgelehnt, sich aber mehrmals unterbrochen, um von den Keksen zu nehmen, die Tron auf den Tisch gestellt hatte. Sie brauchte zwanzig Minuten, um ihre Geschichte zu erzählen. Für ihr Alter war die Schilderung bemerkenswert präzise. Dass die Beschreibung des Mörders reichlich vage ausfiel, war nicht ihre Schuld. Der Bursche hatte offenbar sorgfältig darauf geachtet, dass sein Gesicht im Schatten blieb.
Tron nickte sorgenvoll. «Haben die beiden Carabinieri dein Gesicht gesehen?»
Sie schüttelte den Kopf. «Der Nebel war viel zu dicht.»
«Bist du jemals von uns erwischt worden?» Tron schüttete sich ein wenig Milch in seinen Kaffee.
Wieder blinzelte sie ihn an, als hätte er eine unsinnige Frage gestellt. «Noch nie.»
«Da hast du Glück gehabt.»
Ihre Antwort kam so pfeilschnell. «Glück war das nicht.»
«Was war es dann?»
Ihre blauen Augen blickten auf die Schreibtischkante, dann wieder auf Tron. «Bevor ich zu den Zulianis kam, war ich bei den Settembrinis. Signor Settembrini war Taschenspieler. Hat in Varietés gearbeitet. Mit Karten gezaubert. Leuten auf der Bühne die Uhren aus der Weste gezogen.»
Sie gab sich keine Mühe, die Bewunderung aus ihrer Stimme herauszuhalten. «Er war unglaublich gut.»
«Was ist mit ihm passiert?»
Wenn sie der Tod von Signor Settembrini getroffen hatte, zeigte sie es nicht. «Gestorben. Deshalb musste ich zu den Zulianis.»
«Hat Signor Settembrini dir das alles beigebracht?»
Sie schüttelte energisch den Kopf. «Nicht die Tricks mit den Karten.»
«Aber wie du Brieftaschen ziehst.»
Ihr Gesicht wurde starr. «Ich hab noch nie jemanden beklaut, der arm war.»
Tron wollte gerade einen Schluck aus seiner Kaffeetasse trinken, als ihm die Erkenntnis kam. Er setzte die Tasse wieder ab und sagte: «Du hast meine Brieftasche nicht gefunden, Angelina.»
«Wie?» Das hatte sie nicht erwartet. Sie sah Tron mit runden Katzenaugen an.
«Gestern in der Kirche.» Tron musste auf einmal heftig lachen. «Du hast einen Commissario beklaut. Unter den Augen der Heiligen Jungfrau.»
Was Angelina Zolli nicht komisch fand, aber sofort zugab. «Sie kamen dicht an mir vorbei, und Ihre Brieftasche guckte aus Ihrer Manteltasche. Ich brauchte nur die Hand auszustrecken. Das lief automatisch.»
«Und warum hast du mir die Brieftasche zurückgege ben?»
«Weil ich Leute wie Sie nicht beklaue.»
«Sehe ich so arm aus?»
Wieder antwortete sie sofort. «Sie haben mir die Hand gegeben. Und mir Ihren Namen gesagt. Sie waren höflich zu mir.»
Nach kurzem Schweigen fragte Tron: «Und warum wolltest du jetzt erst mit der Polizei über das reden, was du am Sonntag gesehen hast? Drei Tage später?»
Angelina Zolli streckte ihre Hand nach der Keksdose aus, nahm sich einen Keks, biss aber nicht hinein. «Wenn ich nicht um eins wieder zurück bin, kriege ich Ärger», sagte sie. «Ich dachte, wenn ich dem zuständigen Commissario erzähle, was ich am Sonntag gesehen habe, dann würden sie mich gehen lassen.»
Tron warf einen Blick auf seine Repetieruhr. «Das schaffst du nicht mehr. Aber wenn Signora Zuliani erfährt, was passiert ist, wirst du keinen Ärger kriegen. Du hast den Diebstahl einer Brieftasche verhindert und musstest dir deine Belohnung abholen.»
«Das glaubt sie mir nie.»
Tron lächelte. «Wenn ich es ihr erzähle, wird sie es glauben.» Er stand auf. «Lass uns aufbrechen.»
«Was haben Sie vor?»
Jetzt grinste Tron regelrecht. «Mit der Brieftasche ins Regina zu gehen und den Finderlohn zu kassieren. Anschließend bringe ich dich nach Hause.»
Ein Plan, der Angelina Zolli offenbar zusagte, denn sie schickte ein kurzes Lächeln über den Schreibtisch. Dann sagte sie in demselben sachlichen Ton, den auch die Principessa anschlug, wenn sie über Geld sprach: «In der Brieftasche waren dreißig Gulden und eine Pfundnote.»
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