Venezianische Verlobung
zweimal in Begleitung seiner Gattin besucht, doch in der Regel kam er allein. Interessant war die Tatsache (Bossi schien einen der Nachtportiers befragt zu haben), dass Gutiérrez viele Nächte nicht in seiner luxuriö sen Suite im Danieli verbracht hatte, sondern außer Haus.
Aber wo? Bei Signorina Slataper? Dann könnte es sich bei dem unbekannten Liebhaber der Signorina tatsächlich um Gutiérrez gehandelt haben. Nur: Was hatte den Botschafter, der seine Beziehung zu Anna Slataper die ganze Zeit sorg fältig geheim gehalten hatte, dann dazu bewogen, sich öffentlich mit seiner Geliebten zu zeigen? Das ergab keinen Sinn und sprach gegen die Annahme, dass Gutiérrez der unbekannte Liebhaber war. Merkwürdig blieb allerdings, dass der Mann offenbar einen guten Grund gehabt hatte, in seiner Aussage knappe drei Stunden zu unterschlagen. Hatte er deshalb gelogen, weil er, entgegen seiner Aussage, Anna Slataper doch in ihre Wohnung begleitet hatte?
Tron hatte sich schon lange von der Vorstellung verabschiedet, dass alles in einem Kriminalfall – jedes Detail und jede Handlung der Beteiligten – einen vernünftigen Sinn ergeben würde, wenn man nur lange genug ermittelte. In Wirklichkeit war jeder Fall voll gemüllt mit sinnlosen Details, voll gerümpelt mit den absurdesten Zufällen. So betrachtet konnte die Begegnung zwischen Gutiérrez und Anna Slataper tatsächlich ein reiner Zufall gewesen sein, und für die unterschlagenen drei Stunden konnte es eine völlig harmlose Erklärung geben – oder auch nicht.
Er starrte auf den Rio di San Lorenzo hinab, der durch den Nebel hindurch kaum zu erkennen war, und fragte sich, wie ernst er die Warnung der Principessa vor den mächtigen Freunden des Botschafters zu nehmen hatte.
Als es an seiner Tür klopfte, fuhr er erschrocken herum.
«Ja?»
Die Tür öffnete sich, und auf der Schwelle erschien einer der Sergenti, die im Erdgeschoss der questura für die Arrestzellen zuständig waren. Neben ihm stand ein Mädchen in einem abgerissenen Umhang. Das Mädchen kam Tron vage bekannt vor.
«Was gibt es, Sergente?» Er hatte hinter seinem Schreibtisch Platz genommen und nahm seinen Kneifer aus dem Etui.
Der Sergente räusperte sich. «Es geht um den Mord vom Sonntag.»
Tron beugte sich überrascht vor. «Und?»
Der Daumen des Sergente zeigte auf das Mädchen, als wäre sie ein Gegenstand. Er sagte: «Sie hat was gesehen.
Und sie will nur mit Ihnen reden, Commissario.» Dann fügte er noch hinzu: «Ist mit einer Brieftasche auf der Piazza erwischt worden.»
Erst als Tron seinen Kneifer aufsetzte, erkannte er sie. Das Mädchen aus Santa Maria Zenobigo. Angelina Zolli.
Er stand auf, um ihr einen Stuhl anzubieten.
Auf den ersten Blick sah sie erbärmlich aus, wie sie vor ihm auf der anderen Seite des Schreibtisches auf dem Stuhl hockte. Tron hatte ihren zerschlissenen Umhang neben seinen Gehpelz gehängt, und jetzt stellte er fest, dass sie denselben Kittel trug wie beim Saubermachen in Santa Maria Zenobigo – ein löcheriges Baumwollkleid aus hellbraunem Stoff mit Ärmeln, deren schmutziger Saum knapp unter den Ellenbogen endete. Vermutlich war es das einzige Kleidungsstück, das sie besaß – und vermutlich eins, in dem sie in der kalten Jahreszeit immer fror. Ihr Blick war gesenkt, die Wimpern lang und dicht. Das blonde Haar, das sie hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, war von einer Farbe, die einen glauben machte, es könne sich über Nacht jederzeit in reines Gold verwandeln.
In ein paar Jahren würden ihr die Männer zu Füßen liegen.
Tron fragte sich, ob ihr das klar war.
«Dass wir uns so schnell Wiedersehen würden, hatte ich nicht erwartet», sagte er.
Angelina Zolli, ein Wunder an Selbstbeherrschung, rich tete ihre blauen Augen auf Tron. «Ich wusste nicht, dass Sie hier der Commissario sind.»
«Und ich wusste nicht, dass du auf der Piazza Leute be klaust.»
Sie runzelte die Stirn. «Hab ich nicht. Die Brieftasche lag vor dem Quadri. Ich hab sie nur aufgehoben.»
«Und warum bist du erwischt worden?»
«Weil ich noch auf der Piazza das Geld gezählt habe. Das war blöd von mir.»
«War eine Adresse drin?»
Sie rasselte die Antwort herunter wie eine ihrer mühelos erlernten französischen Vokabeln. « Hotel Regina e Gran Canal. Zimmer sechzehn. Lord Ardrey.»
«Was hattest du mit der Brieftasche vor?»
Ihr Blick besagte, dass sie das für eine unsinnige Frage hielt. «Ich hätte das Geld eingesteckt und
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