Venezianische Versuchung
sehen.“
Sie hatte nicht beabsichtigt, von ihrem unangenehmen Erlebnis in der Gondel zu erzählen, doch ihre Stimme verriet ihre Verwirrung.
Signor di Rossi betrachtete sie besorgt. „Sie sind innerlich aufgewühlt“, sagte er schließlich. „Bitte, leugnen Sie es nicht. Ich spüre es ganz deutlich und wünsche mir nur, ich könnte etwas tun, damit Sie nicht länger leiden müssen.“
Sie schüttelte abwehrend den Kopf.
„Sie sind allein unterwegs, cara. Das ist nicht klug.“
„Aber Sie selbst haben mir doch gesagt, tagsüber sei Venedig für Besucherinnen ein sicherer Ort.“
„Nun, solange eine Dame ihre Umgebung aufmerksam im Blick behält, trifft das zu. Doch Sie sind heute mit Ihren Gedanken weit fort. Dadurch könnten Sie sich in ernsthafte Gefahr bringen.“
Sie bemühte sich, ihrem Gesicht einen neutralen Ausdruck zu geben, und zog sich die Kapuze ihres Mantels noch ein wenig tiefer in die Stirn. Schon vor langer Zeit hatte sie gelernt, dass es besser war, ihre Gefühle vor anderen zu verbergen. Von einer Gouvernante erwartete man nicht nur, dass sie Französisch oder Geografie unterrichten konnte, sondern auch, dass sie ihre beruflichen Pflichten stets über ihre privaten Angelegenheiten stellte. Warum nur hatte sie sich in der Gondel dazu verleiten lassen, von diesem Grundsatz abzuweichen? Es war ihr eigener Fehler gewesen, dass Aston sie so tief hatte verletzen können.
„Ich verspürte den Wunsch, allein zu sein“, erklärte sie Signor di Rossi und hob stolz das Kinn.
Doch der Venezianer ließ sich dadurch nicht täuschen. „Verzeihen Sie, Miss Wood, aber das kann ich nicht glauben. Bitte, erlauben Sie mir, Sie an einen warmen Ort zu begleiten, wo wir die Angelegenheit in Ruhe besprechen können.“
Obwohl sie im Allgemeinen dazu neigte, auf ihre Unabhängigkeit zu pochen, verzichtete sie diesmal darauf und ließ sich von Signor di Rossi in Richtung eines Cafés auf der einen Seite des Markusplatzes führen. Er hatte gerade die Tür geöffnet, als eine Windböe ihn und Jane regelrecht ins Innere des Gastraums wehte. Sogleich eilte ein Kellner herbei und wies ihnen den Weg zu einer der abgetrennten Nischen, die so typisch für ein Wirtshaus waren, in dem vor allem heiße venezianische Schokolade serviert wurde.
Als Jane zum ersten Mal in Begleitung di Rossis eines dieser Cafés betreten hatte, war sie vorsichtig, ja sogar ein wenig misstrauisch gewesen. Zum einen war ihr die Atmosphäre in den Nischen zu intim vorgekommen, denn was in deren Innerem geschah, konnte man mit einem Vorhang vor allen neugierigen Augen verbergen. Außerdem war ihr die Einrichtung viel zu luxuriös erschienen. Die mit dicken weichen Kissen bedeckten Bänke, die gold glänzenden Löffel und Gabeln, die zierlichen mit türkischen Motiven bemalten Porzellantassen … Das alles hatte sie verunsichert. Doch als sie dann den ersten Schluck Schokolade probiert und von dem hauchdünnen Prosciutto gekostet hatte, war alles andere in Vergessenheit geraten. Auf diesen Genuss hätte sie um nichts in der Welt verzichten wollen.
Jetzt, da sie schon wusste, was sie erwartete, war sie deutlich entspannter. Auf ihre Bitte hin hatte di Rossi den Vorhang nicht geschlossen. Gut!
Als die heiße Schokolade vor ihr stand, zog Jane ihre viel zu dünnen Handschuhe aus, um ihre eiskalten Finger an der Tasse zu wärmen. Tief atmete sie den Duft ein, der von dem köstlichen Getränk aufstieg. Süß, ein wenig bitter und auch irgendwie beruhigend. Sie schloss die Lider. Ja, es war richtig gewesen, Signor di Rossi hierher zu folgen. Dies war ein friedlicher Ort. Schade, dass es ihr nicht gelungen war, dem Duke morgens beim Frühstück eben diese Art von Frieden zu vermitteln. Was hatte sie nur falsch gemacht, dass er sie so missverstanden hatte?
„Es ist dieser englische Adelige, der Sie so aus dem Gleichgewicht gebracht hat, nicht wahr?“ Di Rossis Stimme erinnerte an das Schnurren einer Katze. „Ja, ich bin sicher, dass nur er es sein kann, der Ihnen Verdruss bereitet hat.“
Jane riss die Augen auf und sah, dass der Venezianer ihr Gesicht betrachtete. Er musterte es so eingehend, dass sie meinte, seinen Blick auf ihrer Haut spüren zu können. Ihre Wangen wurden so warm wie die Tasse Schokolade, die sie in den Händen hielt.
„Erzählen Sie mir, was geschehen ist, cara“, drängte di Rossi sanft. „Sie werden sich besser fühlen, wenn Sie sich mir in Ihrem Kummer anvertrauen.“
Sie schaute in ihre Tasse und schüttelte
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