Venezianische Versuchung
den Kopf. Seit sie im Alter von achtzehn Jahren ihre erste Stellung angenommen hatte, war sie stets auf sich allein gestellt gewesen. Sie konnte sich kaum daran erinnern, wie es war, ihre Gedanken, Sorgen und Kümmernisse mit einem anderen Menschen zu teilen. Von einer Gouvernante erwartete man Stärke, Fürsorglichkeit und Zuverlässigkeit. Sie sollte stets bereit sein, sich um die kleinen und großen Wehwehchen ihrer Schützlinge zu kümmern. Dass auch sie bei irgendjemandem Trost fand, damit durfte sie allerdings nicht rechnen.
Selbst als ihr Vater gestorben war, hatte sie nur eine Woche Urlaub von ihren Pflichten als Gouvernante erhalten. Und als sie nach Aston Hall zurückkehrte, hatte niemand sich nach ihrem Befinden erkundigt. Ihre Fähigkeiten hatte man stets geschätzt. Doch als Mensch mit eigenen Bedürfnissen, Sorgen und Träumen hatte man sie nie wahrgenommen. Das war sicherlich auch der Grund dafür, dass das letzte Gespräch mit dem Duke sie so hatte durcheinanderbringen können. Sein Interesse an ihr war derart überraschend gekommen, dass sie nicht überlegt hatte, wie sie darauf am besten reagieren sollte.
„Sie schweigen.“ Signor di Rossi seufzte. „Es ist nicht gut, Miss Wood, all diesen Ärger und Kummer in Ihrem Herzen zu verschließen. Sie tun sich damit keinen Gefallen. Die dunklen Gefühle werden wachsen und mit ihnen der Schmerz.“
Im Licht der Kerzen – in der Nische, in der er mit Jane Platz genommen hatte, gab es kein Fenster – wirkte sein Gesicht wie aus dunklem Holz geschnitzt.
„Oh, ich empfinde keinen Schmerz“, entgegnete sie rasch. So rasch, dass es sich wie eine Lüge anhörte. Also fügte sie hinzu: „Ich bin ein wenig beunruhigt, das stimmt. Aber ich leide nicht.“
Er machte eine ungeduldige Handbewegung. „Ich glaube Ihnen nicht, cara. Es tut mit leid, denn ich wünschte, Sie würden nicht leiden. Aber heißt es nicht, die Augen seien das Tor zur Seele? Nun, in Ihren Augen sehe ich Schmerz.“
„Sie täuschen sich, Signore.“
„Sie können mir vertrauen. Wissen Sie das denn nicht?“, fragte er in zärtlichem Ton. „Ihnen zu helfen würde mich glücklich machen.“
Erneut schüttelte sie den Kopf. Seine Güte überwältigte sie. Sie hatte ihn doch nur hin und wieder getroffen, war ihm vor wenigen Wochen zum ersten Mal begegnet, und doch schien er sie viel, viel besser zu kennen als der Duke, in dessen Haus sie jahrelang gelebt hatte.
„Ah, hier kommt etwas, das Ihnen guttun wird“, rief di Rossi, als ein Kellner mit einem Teller voller Gebäck auftauchte. „Probieren Sie!“ Er nahm einen mit Puderzucker bestäubten Keks, brach ihn in zwei Teile und hielt ihr die eine Hälfte hin. „Es gibt nichts Besseres gegen Kummer als etwas Süßes. Bitte, cara, öffnen Sie Ihren hübschen Mund!“
Jane konnte das Aroma von Butter riechen, die Süße des Zuckers und einen Hauch Anis. Tief atmete sie den verführerischen Duft ein, und einen Moment lang war sie versucht, auf das Spiel einzugehen. Sie konnte sich füttern lassen, so wie sie den Duke beim Frühstück gefüttert hatte. Aber hatte sie nicht vorhin erst erlebt, zu welchen Missverständnissen ein solches Verhalten führen konnte? Lächelnd nahm sie dem Venezianer das halbe Plätzchen aus der Hand und schob es sich in den Mund.
Signor di Rossi lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ich verstehe“, sagte er leise. „Nun, da dieser Engländer angekommen ist, fallen auch Sie in Ihr typisch englisches Benehmen zurück. Sie sind wieder die ein wenig steife, misstrauische Engländerin.“
„Es ist nicht recht, den Duke of Aston als ‚diesen Engländer‘ zu bezeichnen. Er ist von altem Adel und gehört zur besten Gesellschaft.“
„Das gilt nur für sein Heimatland“, meinte di Rossi und zuckte mit den Schultern. „Venedig ist eine Republik, und hier legen wir keinen Wert auf Titel. Hier ist dieser Duke nur ein Gentleman wie viele andere auch.“
„Das stimmt nicht“, widersprach Jane. „Dem Duke of Aston steht überall auf der Welt die Anrede ‚Euer Gnaden‘ zu.“
„Was folgerichtig bedeutet, dass aus Ihrer Sicht dieser Mann immer weit über Ihnen stehen wird. Er ist der Herr, und Sie sind die Dienerin. Habe ich das richtig verstanden?“
Sie zögerte. Dann jedoch nickte sie.
Er seufzte und machte ein besorgtes Gesicht. „Sie enttäuschen mich, Miss Wood. Ich hatte angenommen, Venedig hätte Sie verändert. Ich war davon überzeugt, dass Sie sich jetzt als Frau begreifen. Als
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