Venezianische Versuchung
sah man kaum. Auch Gentlemen befanden sich nur selten unter den Gästen. In England hätte Jane wohl nie eine solche Schenke betreten. Doch dies war Venedig, und hier galten andere Regeln.
Der Wirt erkannte sofort, dass Richard ein vornehmer Ausländer war, und beeilte sich, ihn und Jane zu einem kleinen Tisch in der Nähe des Fensters zu führen. Die beiden hatten kaum Platz genommen, als der Wirt auch schon mit einem Tablett erschien, auf dem zwei kleine Gläser gefüllt mit tiefgoldenem Wein standen.
„Auf den König!“ Ernst hob Richard das Glas, das in seinen kräftigen Händen winzig wirkte. „Auf den König und den Karneval.“
„Auf den König“, wiederholte Jane. Sie nippte nur an ihrem Wein, während Richard sein Glas in einem einzigen Zug leerte. Gleich stand der Wirt wieder an ihrem Tisch, um nachzuschenken. Diesmal jedoch trank Richard nicht sofort. Er hielt das Glas gegen das Licht, das durchs Fenster in den Raum strömte, und musterte die goldene Flüssigkeit nachdenklich.
„Wenn man ihn nicht probiert, würde man nicht glauben, dass garba etwas so Besonderes ist“, meinte Jane leise. „Man könnte ihn für irgendein alkoholisches Getränk halten. Selbst wenn er so in der Sonne leuchtet, verrät er nichts von seinem speziellen Wohlgeschmack.“
Richard hob die Brauen. „Man darf Wein doch nicht nach seinem Aussehen beurteilen! Das würde nur ein Einfaltspinsel tun.“
„Wie wahr …“ Jane seufzte. „Auch diese Zigeunerin war ein Einfaltspinsel, weil sie glaubte, sie könne Sie nach Ihrem Äußeren beurteilen. Dabei wusste sie nichts von Ihrer Liebe zu Lady Mary und Lady Diana und nichts von dem Verlust, den Sie vor Jahren erlitten haben.“
„Meine liebe Jane …“ Sein Lächeln hatte zugleich etwas Liebevolles und leicht Bitteres. „Ich habe mich schon lange damit abgefunden, dass Gott mir Töchter und keine Söhne geschenkt hat. Der Sohn meines Bruders ist ein guter Junge. Und wenn er erst erwachsen ist, wird er ein guter Duke werden, nachdem ich – ebenso wie mein Bruder – das Zeitliche gesegnet habe.“
Sie legte ihm leicht die Hand auf den Arm, denn anders wagte sie ihre Zuneigung an einem so öffentlichen Ort wie der Schenke nicht zu zeigen. „Ich bin froh, dass Sie das so sehen.“
Ohne den Blick von seinem Glas zu wenden, meinte er: „Ach, Jane, ich bin ein Narr. Natürlich weiß ich, dass die alte Zigeunerin ebenso wenig in die Zukunft sehen kann wie Sie oder ich. Aber eines hat sie mir immerhin klargemacht: Ich bin kein junger Mann mehr. Das hatte ich, seit ich in Venedig bin, ganz vergessen. Ich kam mir vor wie ein Jüngling, der keine einzige Sorge auf der Welt hat. Ich habe ihr nicht einmal einen Penny gegeben, und dennoch hat sie mir die Wahrheit gesagt: Ich habe meine besten Jahre hinter mir.“
„Das ist nicht wahr“, widersprach Jane. „Die Alte hätte das zu jedem Mann sagen können. Es ging nicht um Sie. Vermutlich hat sie ein paar auswendig gelernte Sprüche heruntergebetet, Sprüche, die sie immer wiederholt, um die Leute auf sich aufmerksam zu machen.“
Richard schüttelte den Kopf. Offensichtlich hatten ihre Worte ihn nicht überzeugt. „Nein, meine Liebe, diese Wahrsagerin hatte recht. Ich bin nicht mehr jung. Ich habe meine Gattin überlebt. Meine Töchter sind verheiratet und werden mich bald zum Großvater machen. Ich habe mich lächerlich gemacht, indem ich wie ein junger Spund mit Ihnen durch Venedig spaziert bin. Ein alter Mann mit einer hübschen jungen Frau …“
„Welch ein Unsinn!“, rief Jane erregt. „Sie sind nicht alt! Wie können Sie nur so etwas denken?“
Er stellte das Glas ab und starrte zum Fenster hinaus. Dann sagte er mit ernster Stimme: „Sie brauchen mir nicht zu schmeicheln. Ich weiß, dass ich zehn Jahre älter bin als Sie.“
„Aber das ist doch gleichgültig! Mich jedenfalls stört es überhaupt nicht.“
Mit einer ungeduldigen Geste wischte er ihre Worte beiseite. „Natürlich ist es nicht gleichgültig! Seien Sie doch wenigstens einen Moment lang vernünftig, Jane! Sie haben das ganze Leben noch vor sich, während ich …“
„Ich will nichts mehr davon hören!“, unterbrach sie ihn entschlossen. Und ehe er noch etwas sagen konnte, war sie von ihrem Stuhl aufgesprungen und vor Richard getreten. Sie umfasste sein Gesicht mit beiden Händen, beugte sich zu ihm hinab und küsste ihn. Dieser Kuss sollte ihn all seine dummen Ideen vergessen lassen. Dieser Kuss sollte ihm beweisen, dass sie recht hatte.
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