Venezianische Versuchung
Also küsste sie ihn lange und leidenschaftlich und ohne auf all die Leute zu achten, die sie beobachten konnten und das auch taten. Ja, selbst die Gespräche in der Schenke waren verstummt.
Dennoch fand Jane, dass ihre Idee gut und richtig war. Mit diesem Kuss hatte sie zumindest Richards Selbstmitleid ein Ende gemacht. Als sie schließlich ihre Lippen von seinen löste, schaute er sie verwirrt, aber gleichzeitig zufrieden, ja glücklich an. Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. „O Jane, das hatte ich nicht erwartet.“
„Das hätten Sie ruhig erwarten können!“, gab sie zurück. „Wenn Sie nicht so mit Ihrem eigenen … Kummer beschäftigt gewesen wären, hätten Sie es wissen müssen.“
„Ach, mein Schatz“, seine Stimme war leise, doch unverkennbar drängend, „haben Sie das ernst gemeint? Sind Sie sich ganz sicher?“
Sie nickte, nahm wieder auf ihrem eigenen Stuhl Platz und strich ihren Rock glatt. „Natürlich. Sonst hätte ich es nicht getan.“
Sein Lächeln vertiefte sich. „Meine kluge, mutige Jane!“
Sie erwiderte sein Lächeln, zu glücklich, um etwas zu sagen. Dann allerdings wurde ihr bewusst, dass sie die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Jeder in der Schenke schaute zu ihnen hin, manche verrenkten sich fast den Hals, damit ihnen nichts entging. Und alle grinsten. Das war unangenehm, und Jane stieg das Blut in die Wangen. Sie war es nicht gewohnt, so angestarrt zu werden. Tatsächlich bemerkten die meisten Männer sie sonst gar nicht. Früher hatte sie oft das Gefühl gehabt, unsichtbar zu sein.
Sie senkte verlegen den Blick. Doch aus den Augenwinkeln sah sie, wie liebevoll Richards Blick auf ihr ruhte. Ach, wenn er sie doch für den Rest ihres Lebens so anschauen würde!
„Jane!“ Er griff nach ihrer Hand und zog sie an den Mund, um sie zu küssen. „Meine wunderbare Jane! Ist Ihnen aufgefallen, dass von meinem Selbstmitleid nichts mehr übrig ist?“
„Das ist vermutlich jedem hier aufgefallen“, meinte sie trocken.
„Gut.“ Er nickte zufrieden und zwinkerte ihr zu. „Gut für uns beide, nicht wahr?“
„O bitte, Richard, alle beobachten uns!“
„Und wenn schon! Sie haben mir die Freude am Leben zurückgegeben. Anders kann ich es nicht ausdrücken. Sie haben mich glücklicher gemacht, als ich es je für möglich gehalten hätte.“ Er nahm sein Glas, trank, stellte es auf den Tisch zurück und erhob sich. Dann ergriff er Janes noch beinahe volles Glas und leerte es ebenfalls. Seine Augen leuchteten.
Die Gäste, die noch immer aufmerksam verfolgten, was an dem Tisch am Fenster vorging, applaudierten.
„Vielleicht war es der Malvasier, der Ihre Laune so gehoben hat, Richard, und nicht ich“, sagte Jane.
„Tja, das werden wir wohl nie herausfinden!“, erwiderte er und lächelte schief. „Und nun möchte ich, ehe wir gehen, diesen Leuten noch meine Dankbarkeit beweisen. Manche Gesten sind zum Glück in allen Ländern der Welt gleich.“ Damit griff er in seine Rocktasche und holte ein paar Münzen heraus. Mit ein paar englischen Worten warf er sie dem Wirt zu, der sie geschickt fing und lachend einsteckte. Er hatte sofort verstanden, was Richard wollte. Mit einer weit ausholenden Handbewegung bedeutete er seinen Gästen, dass sie gerade auf eine Runde eingeladen worden waren. Die Männer erhoben sich, lupften ihre Hüte, applaudierten noch einmal und riefen Richard und Jane Glückwünsche und immer wieder „grazie“ zu.
„Um Gottes willen, Richard, da haben Sie sich ja eine Menge neue Freunde gemacht“, meinte Jane und sah sich noch einmal um, bevor sie an seiner Seite auf die Straße hinaustrat. „Haben Sie genug Geld dagelassen, um allen ein Glas zu spendieren?“
„Allerdings. Ich fand, sie hätten es verdient.“ Er umfasste mit beiden Händen ihre Taille und hob Jane auf die Schwelle des nächsten Hauseingangs.
Erschrocken schrie sie auf, und unwillkürlich hielt sie sich an Richards Schulter fest. Dabei wäre ihr fast der Muff heruntergefallen. „Was tun Sie?“, fragte sie atemlos. Es war ein seltsames Gefühl, ihm Auge in Auge gegenüberzustehen und nicht wie sonst den Kopf in den Nacken legen zu müssen, um ihn anzuschauen. „Lassen Sie mich los, Richard.“
„Ich liebe dich“, sagte er, holte tief Luft und wiederholte: „Ja, es ist wahr: Ich liebe dich.“
Ihr stockte der Atem, sie brachte kein Wort über die Lippen, und einen Moment lang war ihr, als könne sie nicht mehr klar denken.
Richard
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