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Venus

Venus

Titel: Venus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Buschheuer
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ungelesener Sunday Times. Fast ist dem alten Inspektor zum Weinen zumute.
    Vorgestern Abend ist er bei der Suche nach seinem Auto mitten auf der Straße umgekippt. Man ist ja schließlich auch nicht mehr der Jüngste, das kommt noch erschwerend hinzu. Er fand sich im St. Vincent’s Krankenhaus wieder, den Hals in die Manschette gepresst, angeblich mit einem Schleudertrauma, vor allem aber mit einer Gehirnerschütterung, welche nach Aussage des Dienst habenden Arztes, ein echter Komiker, zwei Wochen stationären Aufenthalt erfordere. Vollkommen ausgeliefert, und so etwas ihm!
    Schon am nächsten Morgen schwenkte er seine Bullenplakette und entließ sich selbst aus dem Krankenhaus. Auf eigenes Risiko könne jeder gehen, erklärte der Arzt freundlich, theoretisch auch ein Komapatient. Er müsse nur wegen der Rechnung seine Adresse hinterlassen und hier und da unterschreiben, was den meisten Komapatienten jedoch unmöglich sei. Boone, der mit dieser Art von Humor noch nie etwas anfangen konnte, unterschrieb hier, unterschrieb da. Immerhin hatte er triftige Gründe, die gegen einen zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt sprachen: Er hatte ein Auto zu suchen, einen Fall zu lösen, eine Wohnung zu räumen und – er hatte keine Krankenversicherung.
    Nur Ärger. Seinem Auto konnte er an diesem Morgen auf dem Autofriedhof in Staten Island die letzte Ehre erweisen. Totalschaden. Abschleppkosten. Versicherungstheater. Er müsse den Unfall als Arbeitsunfall melden, erfuhr er, damit die Versicherung überhaupt zahle.
    Als er aber dem Captain den Arbeitsunfall meldete, entzog der ihm den Fall. Er ginge eh demnächst in Pension. Und hätte ja eh noch so viel Resturlaub. Und er sei eh nicht belastbar mit einer Gehirnerschütterung. Er soll sich erst mal auskurieren. Auskurieren ist ein Euphemismus für »Aussortieren!«. Wenn der Auskurierte schließlich wiederkommt, hat er kein Büro mehr.
    Erstmals seit dreißig Jahren fuhr Boone mit der U-Bahn nach Hause und er litt unter seinem so vehementen sozialen Abstieg. An seiner Wohnungstür fand er den Räumungsbescheid. Dreißig Stunden Zeit hat er. Nach dreißig Jahren. Für jedes Jahr eine Stunde. Wenn es nicht so traurig wäre, müsste er lachen.
    Stattdessen sitzt er hier, mit steifem Hals und dröhnendem Kopf, auf einem Stapel ungelesener Sunday Times, auf den Scherben seines Lebens. So schnell kann es in New York mit dem Abstieg gehen. Er sieht sich um, wozu er wegen der Halskrause aufstehen und sich tapsig wie ein Zirkusbär einmal um sich selbst drehen muss. Und dann fragt er sich, was wir uns auch fragen: Wozu hat er eigentlich all den Kram aufgehoben? Wozu braucht ein Mensch den ganzen Mist?
    Er nimmt den pepitastoffbespannten Koffer, mit dem er vor dreißig Jahren aus Brooklyn gekommen ist. Er öffnet ihn und stopft Wäsche hinein, Socken, einige Hemden, zwei Jeans, einen gestreiften Pyjama, einen Anzug, alles von Safeway. Er sieht sich um und packt sein einziges Buch dazu, Der alte Mann und das Meer . Das wollte erschon immer mal lesen, jetzt hat er sicher Zeit dazu. Er öffnet eine Dose Heineken, wühlt lange nach seinem einzigen Fotoalbum, setzt sich auf den Boden und blättert es durch.
    Beim Foto von Muhme Annie macht er Halt, blickt einen Moment lang sentimental drein, droht dann schelmisch mit dem Finger und sagt: »Na, Annie, schöne Sachen hast du mir da eingebrockt!«
    Er packt das Fotoalbum in den Koffer, macht den Koffer zu und setzt sich drauf. Angeln in Montana, das war immer so eine Vision fürs Alter gewesen, Angeln in Montana. Aber je älter Boone wird, desto weiter weg rückt die Vision, das heißt, der Abstand ist immer derselbe geblieben. Er hatte nie verstanden, dass das Alter, in dem ein Mann nach Montana geht und angelt, bereits eingetreten war.
    Vor zwei Monaten erstmals, vor zwei Monaten musste er für einen Fall nach Indianapolis fliegen, und die Frau am Ticketschalter sagte laut: »Nehmen wir den Seniorentarif?« Nicht allein die Erwähnung des Seniorentarifs, sondern auch die Sprechlautstärke, gekoppelt mit dem taktlosen Einsatz des Wörtchens »wir«, hatten ihn trübsinnig gemacht. So spricht eine Krankenschwester mit einem Tattergreis, mit einem, der unter sich macht und sabbert. Und heute hatte ihm in der U-Bahn jemand seinen Sitzplatz angeboten. Ein Vierzigjähriger hatte ihm seinen Sitzplatz angeboten! Während Boone den Sitzplatz dankend angenommen hatte, da er ihm nicht ungelegen kam, gab er sich dem Tagtraum hin, seine Dienstwaffe zu ziehen

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