Verbotene Sehnsucht
Enttäuschung, verdrängte das Herzeleid, das sie förmlich zerriss. Sie nickte steif und machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen.
» Willst du denn gar nicht frühstücken?«, fragte Alex sanft, jedoch mit einem scharfen Blick aus seinen silbrigen Augen.
Zögernd drehte Missy sich um. Sie wagte nicht einmal zu lächeln– aus Angst, der dünne Faden, an dem ihre Selbstbeherrschung hing, könnte reißen. Sie schüttelte langsam den Kopf: » Nein, ich habe keinen Appetit.«
James war fort. Hatte vor ihr die Flucht ergriffen. Wieder einmal.
4
S eit James Stoneridge Hall vor beinahe drei Monaten so plötzlich verlassen hatte, versuchte Missy sich immer wieder vorzustellen, wie ihre nächste Begegnung wohl verlaufen würde. Wann hörte sie endlich auf, sich selbst etwas vorzumachen? Immerhin war er regelrecht vor ihr geflohen, hatte sich panikartig davongemacht. Was konnte sie angesichts dieser Ausgangslage groß hoffen? Immerhin würde sie ihn bald sehen, wenn nichts dazwischenkam. Sehr bald, denn am morgigen Abend fand im Stadthaus der Familie eine kleine Dinnerparty statt, zu der auch James eingeladen war.
Sie nahm sich vor, kühl und höflich aufzutreten, keinesfalls auch nur den geringsten Hauch von Interesse zu bekunden. Sie wollte sich den Anschein erwachsener Nonchalance geben und sich so tadellos aufführen wie eine echte Lady, sich nicht zu banalem Geschnatter hinreißen lassen oder zu auffälliger Koketterie. Nein, sie hatte die Absicht, genauso klug und weltläufig aufzutreten wie die Damen, die er zu bevorzugen schien. Allerdings war die Palette seiner Geliebten dermaßen bunt und vielschichtig, dass eine schlüssige Beurteilung nahezu unmöglich war. Da gab es glamouröse Frauen wie eine Schauspielerin, eine Tänzerin und eine Opernsängerin, aber auch respektable Ladys wie eine verwitwete Duchess. Allen sagte man nach, schrecklich kultiviert und schön zu sein. In den letzten Monaten hatte sie alles Wissenswerte über die Herzensdamen in Erfahrung gebracht.
Wie konnte sie da mithalten? Missy senkte den Blick und betrachtete ihr malvenfarbenes Kleid– das genaue Gegenteil von Kultiviertheit und gewiss nicht das, was sie sich für die Begegnung vorgestellt hatte. Es sah nach einem ausgedehnten Spaziergang im Hyde Park mehr als mitgenommen aus.
Matsch tropfte vom Saum ihres Rockes und sprenkelte in unregelmäßigem Muster den Seidenstoff. Überdies kam es ihr vor, als rinne ihr etwas Glitschiges und Nasses über die Wange, und auf dem Rücken ihrer behandschuhten Hand entdeckte sie einen schmutzigen Fleck.
Mit offenem Mund und aufgerissenen Augen blieb sie wie angewurzelt stehen, denn ein paar Schritte entfernt stand James genau auf der gegenüberliegenden Seite des viel befahrenen Weges. Und falls ihr Anblick noch nicht ausreichte, um sich tagelang den Bauch zu halten vor Lachen, befand sich in seiner Begleitung niemand anderes als Lady Victoria Spencer, die ebenfalls Zeugin ihrer Erniedrigung werden würde.
Wenn es ihr in Anbetracht des Ausmaßes der bevorstehenden Demütigung nicht die Sprache verschlagen hätte, wäre sie über diese himmelschreiende Ungerechtigkeit vermutlich in lautes Jammern und Wehklagen ausgebrochen. Zu allem Überfluss sah James wie immer umwerfend aus in seinem dunkelbraunen Übermantel und den braunen Hosen, während sie– Missy starrte einmal mehr auf ihr Kleid– wie ein verdrecktes Häufchen Unglück wirkte. Schamesröte stieg ihr in die Wangen, und ihr wurde siedend heiß trotz der frischen Vormittagsbrise.
» O meine Liebe, was für ein Pech.« Claire, deren Erscheinungsbild ohne Fehl und Tadel war, zog ein weißes Taschentuch aus ihrem Retikül und drückte es ihrer Freundin sanft auf die Wangen. Sie kicherte leise und versuchte, das breite Grinsen zu unterdrücken.
Missy hob den Kopf, die schieferblauen Augen weit aufgerissen, die Lippen zusammengepresst und geschürzt.
» Bitte entschuldige.« Vergeblich versuchte Claire, nicht mehr zu kichern. » Es ist nur so, dass du ziemlich lustig aussiehst mit deinem gesprenkelten…« Missy durchbohrte ihre Freundin mit einem vernichtenden Blick und brachte sie damit zum Schweigen.
Beatrice, Missys Zofe, die die beiden jungen Damen begleitete, eilte herbei, um sich rasch an dem gepunkteten Kleid zu schaffen zu machen, ein jedoch ziemlich nutzloses Unterfangen. So viel Schmutz ließ sich einfach nicht mit einem kleinen Tuch entfernen.
Mit Blicken, die töten könnten, verfolgte Missy den fremden Reiter, der die
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