Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
seine Farbe, es konnte türkis schimmern oder sich in ein geheimnisvolles tiefdunkles Blau verwandeln, es konnte golden sein von den Sonnenstrahlen, die auf ihm lagen, oder grau und kalt, von stürmischem Wind aufgewühlt. Manchmal zog es sich weit vom Strand zurück, dann mußte man endlos laufen, um seine flachen Wellen zu erreichen, und überall fand man Muscheln, Algen und kleine Krebse. Oder aber die Flut schwemmte das Meer über den ganzen Strand hinweg bis zu den Klippen, und wo man zuvor noch hatte laufen können, gähnte nun unheimliche, grundlose Tiefe. Elizabeth liebte es hierzusein, ganz gleich, ob die Sonne schien oder graue Wolken tief über dem Wasser hingen. Sie fuhren meist mit der Kutsche nach Hunstanton, dem winzigen Küstenort, von dem aus sie an klaren Tagen über die Meeresbucht hinweg einen schmalen Streifen der Grafschaft Lincolnshire erkennen konnten. Wenn sie dann weiterliefen über die Klippen, machte der Weg einen Bogen nach Osten. Nachdem sie daran vorüber waren, befanden sie sich außerhalb der Bucht, und vor ihnen lag nun die weite Nordsee, der Wind blies heftiger, das Gras unter ihren Füßen wurde rauher und härter. An diesem Ort hätte Elizabeth viele Stunden bleiben können. Es war der Platz auf der Welt, von dem sie dachte, daß er schöner sei als Louisiana mit seinem Mississippi, den großen Bäumen und leuchtenden Blumen, den Negerhütten und weißen Herrenhäusern. Hier fühlte sie sich auch ganz stark mit Henry und Sarah verbunden, deren ursprüngliche Heimat in England lag.
Die Sheridys sollten so rasch nicht mehr Norfolk und Heron Hall verlassen. Harriet schien mit Georges Geburt ihre allerletzten Kräfte verbraucht zu haben. Ihre Schwäche wurde schlimmer, sie verbrachte ganze Tage nur auf dem Bett liegend, halb wachend, halb schlafend. Die Kinder merkten meist gar nicht,
wenn es so schlimm stand, daß man um ihr Leben bangte. Cynthia nur wußte wohl mehr, aber sie verschloß ihre Angst in sich. Für sie brachte die Krankheit ihrer Mutter eine Düsternis in ihr Dasein, die den beiden jüngeren Mädchen verborgen blieb, für die das Leben in Heron Hall sein unveränderlich friedliches Gleichmaß bewahrte.
Das Ende der Kindheit
1793-1794
1
Es war der 28. Januar des Jahres 1793, ein unfreundlicher grauer Tag, eiskalt durch den scharfen Nordwind, der von der See her ins Land blies. In der vergangenen Nacht hatte es sogar geschneit, was in Norfolk selten geschah, und nun lag eine dünne weiße Schicht über dem Gras und auf den kahlen Baumästen. Ein paar Vögel hockten aufgeplustert in den Büschen, die Möwen segelten im Wind, kreischten matter als sonst. Auch sie fanden den Tag außerordentlich unfreundlich.
Joanna Sheridy erwachte früher als gewöhnlich. Sie warf einen Blick zum Fenster, sah nichts als graue Wolken, wollte sich schon seufzend auf die andere Seite drehen, aber da begann ihr müder Kopf plötzlich zu arbeiten, und ihr fiel ein, welches Ereignis heute stattfinden sollte. Der 28. Januar war der Hochzeitstag ihrer großen Schwester Cynthia!
Joanna sprang mit einem Satz aus dem Bett und tapste fröstelnd zum Fenster. Wirklich abscheuliches Wetter hatte die arme Cynthia für ihre Hochzeit erwischt, aber vielleicht bemerkte sie das in ihrer Verliebtheit gar nicht. Erstaunlicherweise liebte sie nämlich ihren höchst unsympathischen Bräutigam, dem niemand sonst im Haus sonderlich viel Zuneigung entgegenbrachte. Joanna fand ihn besonders schrecklich, denn ihr legte er immer seine dicke Hand auf den Kopf und nannte sie »mein Engel«. Eine Bezeichnung, die, wie Joanna jedesmal empört zu Elizabeth sagte, doch viel eher Cynthia gebührte als deren kleiner Schwester.
Elizabeth schlief an diesem Morgen noch. Joanna betrachtete
zärtlich die wirren schwarzen Haare, die als gewaltiges Büschel auf dem Kopfkissen lagen, verteilt um das entspannte Gesichtchen mit den geschlossenen Augen und leicht geöffneten Lippen. Elizabeth sah wie ein Engel aus, wenn sie schlief, rührend zart und sanft. Wachte sie hingegen auf, verwandelte sich ihr Gesicht wieder in den gewohnten, noch unfertigen Ausdruck eines zwölfjährigen Mädchens. Joanna fand das schade. Sie und Elizabeth sprachen in der letzten Zeit häufig über Schönheit und waren beide mit ihrem Äußeren wenig einverstanden. Sie versuchten sich zu erinnern, wie das früher gewesen war, was ja noch nicht lange zurücklag, aber es gelang ihnen nicht so recht. Entweder hatten sie weniger darauf geachtet, oder sie
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