Verdacht auf Mord
einzige Kind gewesen. Nicht dass er je geglaubt hätte, dass ein Kind ein anderes ersetzen konnte, aber es wurde natürlich einsamer, wenn man gar keine hatte.
Die bisherigen Ermittlung hatten nicht erhellt, weshalb sich Emmy von den anderen eifrig büffelnden Studentinnen hätte unterscheiden sollen.
Aber in einem Punkt hatte sie geirrt: Sie hatte den falschen Mann in ihre Wohnung gelassen.
Der Kaffee war getrunken und das Mandelgebäck aufgegessen. Er sah auf die Uhr. Es war vermutlich immer noch zu früh, zur Entbindungsstation zurückzugehen.
Aus einer Eingebung heraus, begab er sich auf die Spuren von Jan Bodén und ließ den Fall der ermordeten Studentin erst einmal ruhen.
Bodéns letzter Gang. Jensen hatte diesen Gang nach Golgatha natürlich bereits ein paar Mal nachvollzogen, aber jetzt waren seit dem letzten Mal ein paar Wochen vergangen. Vielleicht würde der zeitliche Abstand etwas Neues ergeben.
Er passierte beide Fahrstuhleinheiten, bei den ersten herrschte reger Betrieb, die zweiten waren dem Bettentransport vorbehalten. Hier herrschte momentan Grabesruhe. Zwischen Personen- und Bettenfahrstühlen befand sich die Treppe von normaler Größe, im Gegensatz zu Hotels, in denen es zum Hinterhof enge Treppenhäuser gab, durch die das Personal ungesehen verschwinden konnte oder die als Fluchtweg vorgesehen waren.
Die Treppe führte zu den zwölf oberirdischen Stockwerken und zu den zwei Untergeschossen mit ihren Tunneln. Die Angestellten benutzten sie recht fleißig, zumindest jene, die nicht weiter oben im Gebäude arbeiteten. Aber kein Einziger, der wegen Bodéns Tod hatte von sich hören lassen, und das waren viele gewesen, hatte etwas Brauchbares beizutragen gewusst. Trotz der vielen Aufrufe in der Presse.
Jensen betrachtete Fußboden, Wände und Schilder und versuchte sich in Jan Bodén hineinzuversetzen. Er war ein paar Jahre jünger gewesen als er und hatte einen kleinen und harmlosen Tumor hinter dem einen Ohr gehabt. Laut Claes Claesson hatte ihn das aber ziemlich mitgenommen und in eine Lebenskrise getrieben.
Das war an sich nichts Merkwürdiges. Vor allen Dingen, weil Bodén offenbar vorher gesund gewesen war. Wie er sich seine Unsterblichkeit und seine eventuelle Größe vorgestellt hatte, darüber wusste Jensen nicht so viel. Und auch sonst niemand. Aber er stellte sich vor, dass Bodén nicht sonderlich sympathisch gewesen war. Claes Claesson hatte Widersprüchliches in Erfahrung gebracht. Vielleicht hatte ja seine Arbeit Spuren hinterlassen. Den widerstrebenden Bälgern Kenntnisse einzubläuen erforderte vermutlich gewisse Tricks und eine barsche Stimme.
Aber war er hier wirklich allein entlanggegangen?
Wo war er seinem Mörder begegnet?
Bodén war allein gewesen, als er die HNO-Klinik verlassen hatte, dessen war sich das Personal sicher. Jemand hatte ihn auf den Block zugehen sehen. Er hatte an der Treppe gestanden, die zum Wendeplatz vor dem Entree führte. Aber dann gab es keine verlässlichen Zeugen mehr.
Jensen konnte verstehen, wieso. Die Menschen, denen er hier begegnete, hatten Mühe, überhaupt vorwärtszukommen. Sie gingen auf Krücken, saßen im Rollstuhl oder lagen auf einer Trage. Im hinteren Teil der Eingangshalle bei den Fahrstühlen gab es keine Bänke, auf denen man hätte verweilen und die Umgebung betrachten können. Außerdem wurde dieses Areal gewissermaßen von der Cafeteria verdeckt. Die Weißgekleideten schienen alle in Eile zu sein, und die Besucher hatten Mühe, sich mithilfe der Wegweiser zurechtzufinden.
Langsamen Schrittes begab sich Jensen in den menschenleeren Gang hinter der Eingangshalle. Er spähte in den Innenhof. Das einfallende Licht wurde von dem sandfarbenen Linoleumboden zurückgeworfen. Er verharrte wie nun schon oft vor den beiden Toiletten und dem mittlerweile berühmten oder, genauer gesagt, berüchtigten Putzmittelraum. Der Innenhof diente als Lichtschacht, und man konnte ihn nicht betreten. Er war gepflastert, es gab aber keine Stühle und Tische. Hinter den Fenstern auf der anderen Seite des Innenhofs waren Monitore und Schreibtischlampen auszumachen. Dort befand sich das Zentrallabor. Natürlich waren dort alle vernommen worden. Niemand hatte etwas gesehen. Das Licht fiel so ein, dass der Gang vor den Vorlesungssälen und damit auch vor dem Putzmittelraum tagsüber im Halbdunkel lag. Abends, wenn Licht brannte und man durch die Fenster besser hineinsehen konnte, befand sich niemand mehr in den Büros gegenüber. Der Mord war Anfang
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