Verdacht auf Mord
Die meisten hatten zumindest noch einige klare Erinnerungen aus der Gynäkologievorlesung. Stjärne hatte definitiv alles vergessen gehabt. Aber er bedachte sie trotzdem mit dem Blick eines Adligen aus einem Film, der vor über hundert Jahren spielte. Genauer gesagt, sah er immer knapp an ihr vorbei.
Wie konnte man nur so selbstbewusst sein? Es war ihr unerklärlich. Aber nicht nur sie hatte angefangen zu murren. Schwestern, Hebammen und Kollegen, viele machten sich Gedanken. Aber wie immer waren die Meinungen geteilt, und wie immer hatte es zu nichts geführt, außer dass man sie mehr oder minder gegen ihren Willen zu Stjärnes Mentorin gemacht hatte. Andererseits hatte es niemanden gegeben, der diese Aufgabe freiwillig übernommen hätte. Also Zwang. Weisung von oben. Auch ein bisschen Schmeichelei – sie besäße doch so eine einzigartige Geduld und so weiter und so fort. Ihr Chef hatte gelächelt, und damit hatte sie dann die Bescherung gehabt.
Es war ihr trotz allem gelungen, Stjärne einen halben Kaiserschnitt ausführen zu lassen. Er konnte einen ganz annehmbaren Hautschnitt ausführen und sich dann mithilfe der Finger gewebeschonend und rasch bis zur Gebärmutter vorarbeiten, obwohl ihm dabei die Hände zitterten. Dann gelang es ihm, die Haut über der Blase aufzuschneiden und nach unten zu schieben. Aber er hatte sich bisher außer Stande gesehen, den eigentlichen Schnitt in die Gebärmutter vorzunehmen und das Kind herauszuholen. Und natürlich bestimmte niemand anderes als Gustav Stjärne, wie schnell es zu gehen hatte. Da sagte sie nichts. So gesehen, war sie eine rücksichtsvolle Pädagogin.
Druck funktionierte langfristig nicht.
Aber etwas mehr Dampf könnte man ihm schon machen, dachte sie und legte verärgert eine Kassette in das Diktiergerät. Die meisten Ärzte in der Ausbildung waren kaum aufzuhalten. Der Eifer weiterzukommen ließ sie in der Regel keine Grenzen anerkennen. Sie taten eigenmächtig mehr, als sie durften, und fragten nicht oft genug nach. Aber manches Mal war es auch gar nicht so einfach, jemanden zu finden, den man fragen konnte. Mit anderen Worten, würde ihr Stjärne weiterhin ein Klotz am Bein sein! Sie saß in einem Kabuff im OP-Trakt, das nicht größer als ein Kleiderschrank war. Hier hatte sie ein paar Minuten lang ihre Ruhe. Zum Arbeiten war dies der beste Platz der ganzen Klinik. Sie konnte die Tür hinter sich zumachen und durch das Fenster die Sonne sehen und die Menschen, die zwischen dem Block und der onkologischen Klinik hin und her gingen. Hier saß sie gerne, ohne dass sie jemand unterbrach oder versuchte, sie wegzuzerren.
Sie diktierte Datum, ihren Namen, die Daten der Patientin, die Namen der Chirurgen – sie und Stjärne – sowie das Zahlenkürzel für die Diagnose und den Eingriff. Sie hatte das schon so oft getan, dass die Worte wie von selbst kamen. Ihr Blick wanderte gleichzeitig zur Lasarettsgatan hinaus und blieb an Ester hängen, die auf die Onkologie zuging. Ein dunkelhaariger, jüngerer Arzt kam auf sie zu. Ihr Freund, dachte sie. Oder der Ex? Kein Kuss und keine Umarmung. Sie blieben in einigen Metern Abstand voneinander stehen. Er schaute schräg in die Luft, und Ester hatte die Schultern hochgezogen. Es war deutlich zu sehen, dass die Unterredung unangenehm war. Sie hatte ihre Hände immer noch in den Manteltaschen vergraben, als sie einige Minuten später zum Haupteingang des Blockes weiterging.
Christina Löfgren nahm die Kassette heraus und ging zur Sekretärin, grüßte, gab das Diktat ab, zog sich um, warf die grünen Kleider in den Wäschekorb und atmete tief durch. Sie musste wieder runter auf die Entbindungsstation und zu Stjärne. Besser nicht nachdenken.
Aber warum soll ich nicht ehrlich sein, dachte sie und zog weiße Hosen und ein weißes Hemd an. Sie musste Gustav Stjärne auf eine elegante Art, falls das überhaupt ging, plausibel machen, dass er sich eine ganz andere medizinische Fachrichtung suchen sollte. Ein Gebiet, auf dem es keine so große Rolle spielte, dass man sich nicht entscheiden konnte. Sie wollte ihm eine ehrliche Chance geben. War er zwischen Reagenzgläsern und Pipetten nicht einfach besser aufgehoben? Oder in der Psychiatrie?
Einige Kollegen hatten sich überschwänglich lobend über das Einfühlungsvermögen Stjärnes Patienten gegenüber ausgelassen. Sie suchte in der Kitteltasche nach einem Kamm. Die OP-Hauben machten einem immer die Frisur kaputt.
Stjärne als Psychologe!
Vermutlich war das damals, als
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