Verdacht auf Mord
Menschen ermüdeten sie. Das ganze Gerede und das ständige Stellung-nehmen-Müssen lösten sie gewissermaßen auf. Und das Zuhören. Sie musste sich anstrengen, nicht geistesabwesend zu wirken. Trotzdem waren es diese ruhigen Gespräche mit den Patienten, die sie immer mehr interessierten. Aber jetzt konnte sie fast nicht mehr. Schließlich war sie auch nur ein Mensch.
Sie hatte Claes versprochen einzukaufen. Sie wollte wiedergutmachen, dass sie so viel weg gewesen war. Dieses ständige Wiedergutmachen. Nicht dass er es erwartet hätte – oder vielleicht nur ein wenig. Er hatte sich schon ganz schön selbst bemitleidet. Sie wusste nur nicht, wie sie das durchhalten sollte, sie war müde, und ihr war speiübel. Im Übrigen fiel ihr nichts ein, worauf sie zum Abendessen Appetit gehabt hätte. Höchstens Eis, weiches, schon halb aufgetautes Vanilleeis.
Wie beim letzten Mal.
Diese Einsicht schoss wie ein Korken an die Oberfläche. Sie begann nachzurechnen. Wann hatte sie zuletzt ihre Tage gehabt?
Die Menstruation war in letzter Zeit etwas häufiger gekommen, was sie nicht weiter gekümmert hatte, denn sie hatte es nüchtern als dem Altern zugehörig erachtet.
Im Übrigen war es in letzter Zeit vollkommen unmöglich gewesen, so banale Dinge wie ihre Regel im Auge zu behalten. Sie war sechsundvierzig und würde bald ihren siebenundvierzigsten Geburtstag feiern. Sie kannte niemanden, der in diesem Alter noch ein Kind bekommen hätte. Höchstens im Ausland und mit künstlicher Befruchtung.
Es war eine große Gnade gewesen, Klara zu bekommen. Sie hatten sich eigentlich damit abgefunden, ein gutes Leben ohne gemeinsame Kinder zu führen.
Dann war ihre Tochter zur Welt gekommen.
Beim Kindergarten stieg sie vom Fahrrad. Die Kinder spielten draußen, und sie stellte sich vor den niedrigen Lattenzaun. Klara entdeckte sie und rannte mit ausgestreckten Armen auf sie zu. Sie fing ihr Mädchen auf, vergrub ihre Nase in ihrem nach Sand riechenden Haar und spürte die warme, klebrige Wange an ihrem Hals. Es fehlte nicht viel, und sie wäre in idiotische Tränen ausgebrochen.
Das Dasein war so überwältigend. So unbegreiflich! Ich befinde mich mitten im Leben, dachte sie.
Sie holte Klaras Tasche. Ihre Tochter blieb ihr auf den Fersen, wieselflink. Veronika fing sie ab, bevor sie im Spielzimmer verschwinden konnte.
»Nein, du, jetzt fahren wir nach Hause.«
Sie schnallte Klara auf dem Kindersitz an und setzte ihr den leuchtend roten Helm mit Igeln auf.
Sie schob es von sich weg. Sie würde es noch eine Weile geheim halten. Sie wollte sich erst sicher sein. Nicht unnötig für Unruhe sorgen. Es war so schon genug.
Stattdessen dachte sie darüber nach, ob sie es riskieren sollte, einen Schwangerschaftstest bei ICA zu kaufen. Nicht dass die Qualität im Supermarkt schlechter gewesen wäre, aber sie wollte sich nicht von der Kassiererin kritisch mustern lassen.
Die Alte, was bildet die sich denn ein!
Das waren die Nachteile eines Lebens in der Kleinstadt. Man fühlte sich immer neugierigen Blicken ausgesetzt.
Ester Wilhelmsson saß mit einer anderen Hebamme auf der Couch im Kaffeezimmer der Lunder Frauenklinik. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und sprachen leise.
Christina Löfgren hatte ihnen den Rücken zugewendet und wartete darauf, dass ihr Cappuccino fertig wurde. Trotzdem merkte sie, dass Ester den Tränen nahe war. Glühende, schmerzhafte Liebe, so viel begriff sie, ohne dass sie die Details mitbekommen hätte. Aber man musste schließlich auch nicht alles wissen.
Gustav Stjärne saß ein Stückchen weiter weg am Esstisch und blätterte zerstreut im Sydsvenska Dagbladet . Es kann nicht leicht sein, es in dieser Frauenwelt auszuhalten, dachte sie, gerade als »auseinander ziehen« vom Sofa an ihr Ohr drang. Dann hörte sie: »Treffe meine Mutter.«
Ja, Mütter waren immer eine Hilfe. Sie hatte vier Kinder zu Hause und fragte sich manchmal, ob ihr Mann nicht auch noch zu den Kindern gezählt werden müsste. Es war ein Privileg, eine Mutter zu haben, die noch am Leben war. Außerdem noch eine, die fit war. Sie lief zwar keinen Marathon mehr, fuhr aber immer noch Rad. Und zwar in Schonen auf dem Land, um fit zu bleiben.
Auf der Entbindungsstation war es im Augenblick ruhig, und Christina Löfgren nutzte die Gelegenheit und entspannte sich ein wenig. Sie nutzte ohnehin jede Gelegenheit, sich auszuruhen, wenn sie bei der Arbeit war. Im Gegensatz zu daheim, konnte sie hier manchmal sowohl Kaffee trinken als auch
Weitere Kostenlose Bücher