Verdacht auf Mord
einen zusammenhängenden Gedanken fassen. Aber es konnte auch jeden Moment umschlagen. Die Unvorhersehbarkeit der Arbeit besaß ihren Reiz. Die Pausen waren jedoch nötig, um überhaupt die Kraft für die Stressphasen zu besitzen.
Lotten stand in der Tür.
»Da ist ein Mann, der Sie sprechen möchte«, sagte sie an Gustav Stjärne gewandt.
»Wer?«
Er blieb reglos sitzen und starrte in die Zeitung.
»Weiß nicht. Noch nie gesehen. Ich habe ihn in den Aufenthaltsraum gebeten.«
In diesem Moment schrillte eine Stimme durch den Korridor.
»Mit den Herztönen in der drei stimmt was nicht.«
Christina Löfgren rannte los.
»Sag dem Mann, er soll warten«, rief sie Gustav zu.
Die Tür hatte sich hinter ihr geschlossen, als sich Gustav an Lotten wandte.
»Sagen Sie, ich sei beschäftigt. Bitten Sie ihn um seine Telefonnummer, dann rufe ich ihn an.«
Dann eilte er hinter Christina her auf den Korridor.
Gillis Jensen ging zum Block, um eine Tasse Kaffee in der Eingangshalle zu trinken. Sie erinnerte ihn an eine riesige, moderne Kathedrale. Er setzte sich an einen runden Tisch am Fenster und starrte nach draußen. Der Asphalt im Schatten des hohen Gebäudes war dunkel. Es ist wirklich düster hier unten. Weiter oben ist es sicher besser, dachte er. Plötzlich war er dankbar dafür, einen freieren Arbeitsplatz zu haben oder zumindest einen gesünderen.
Ein ständiger Strom von Taxis. Die Drehtür war ein Rachen, der Menschen verschluckte und einige ausspuckte. Andere blieben.
Er hatte das bestimmte Gefühl, dass sich der junge Stjärne nicht melden würde. Sein Handy würde nicht klingeln. Während er zerstreut die Geschäftigkeit um sich herum betrachtete, kam er zu dem Schluss, dass er es sich erlauben konnte zu warten. Jedenfalls eine Weile. Eigentlich hatte er es satt, junge Menschen zu vernehmen. Einige hatten sich allerdings auch von sich aus gemeldet. Einige hoch qualifizierte Jünglinge und einige Frauen mit flinkem Mundwerk. Alle hatten sich bereit erklärt, eine Speichelprobe für den DNA-Test abzugeben. Die Meisten hatten es angeboten, noch ehe die Vernehmung begonnen hatte.
Eckige Raumteiler in Seegrasgrün ragten zwischen der Cafeteria und dem Durchgang zu den Fahrstühlen auf. Personal, Patienten und Besucher standen am gegenüberliegenden Pressbyrå-Kiosk Schlange. Er zog die Brauen hoch, als er die Schlagzeile einer Abendzeitung sah: Emmys Mörder in Haft .
Das wusste nicht mal ich, dachte er sarkastisch.
Es regte ihn jedoch nicht weiter auf. Darüber war er schon lange hinweg. Der Anblick des inzwischen weit verbreiteten und stark vergrößerten Fotos von Emmy Höglund mit ihrem langen dunklen Haar und ihren munteren Augen bereitete ihm jedoch ein gewisses Unbehagen. Die armen Eltern, dachte er. Emmy lächelte hold. Frauen lächelten immer hold auf Fotos. Nur Männer durften ernst bleiben.
Jensen erblickte den dunkelhaarigen Arzt, der Leo hieß. An den Nachnamen erinnerte er sich nicht. Er setzte sich mit zwei anderen an einen Tisch in der Nähe. Leo bemerkte ihn nicht. Er war noch bleicher und hatte noch tiefere Ringe unter den Augen. Wahrscheinlich war es anstrengend, Arzt zu sein.
Jetzt beugte sich dieser Leo zu den anderen beiden vor, einem jungen Arzt, den Gillis noch nie gesehen hatte, und einer Frau, die ebenfalls einen weißen Kittel trug. Sie kehrte ihm den Rücken zu. Blondes, verblüffend kräftiges Haar fiel über ihre Schultern herab. Engelshaar. Er wusste nicht recht, warum er es den Kranken gegenüber unangemessen fand, offenes Haar zu tragen. Ärzte hatten nicht eitel zu sein. Im Übrigen war es unhygienisch. Er stellte sich vor, wie sich Bakterien daran festklammerten und dann verbreiteten. Oder Viren.
Jensen warf noch einen Blick auf die Schlagzeilen. Dieses Mal würden sie den Mörder fassen. Davon war auch der Leiter der Ermittlung überzeugt. Kriminalinspektor Lars-Åke Mårtensson hatte nicht lockergelassen, sondern seinen Optimismus und seinen Aktivismus eher noch hochgeschraubt. Er war ein vorausschauender Mann. Manche Mitarbeiter waren ihm vollkommen ergeben.
So war ich auch mal, als ich jünger war, dachte Gillis Jensen. Er wusste nicht, ob es gut oder schlecht war, dass seine Energie nachgelassen hatte. Zumindest war das Leben angenehmer geworden.
Emmy Höglunds bemitleidenswerte Eltern harrten einer Auskunft. Sie waren natürlich vollkommen fassungslos. Fast alles im Leben ihrer Tochter war perfekt gewesen. Jedenfalls aus ihrer Sicht. Außerdem war sie das
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