Verdacht auf Mord
war stickig. Sie hatten fast jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren.
Sie durchforsteten Zeugnisse. Claesson und Kerstin Malm hatten ihre Lesebrillen aufgesetzt und sich ihre Jacken ausgezogen. Vor sich hatten sie ein Papier mit der Zahlenreihe »4 3 3 2 4 3«. Sie verglichen diese Zahlen mit den Noten sämtlicher Schüler in den Klassen, die Melinda Selander besucht hatte. Sie starrten diese Zahlen jetzt schon so lange an, dass sie begannen, sich wie Ameisen auf dem Papier zu bewegen. Und das würde sicher noch schlimmer werden.
Sie gingen aufgrund einer Hypothese vor, die allerdings nicht vollkommen aus der Luft gegriffen war. Louise Jasinski war dieser Gedanke gekommen. Aber auch Kerstin Malm hatte die Idee gehabt, dass es sich bei den Zahlen um Zeugnisnoten handeln könnte. Zwei voneinander unabhängige Personen mit derselben Assoziation ließen die Hypothese plausibler erscheinen. Das Problem bestand darin, dass sie weder wussten, für welche Fächer die Zahlen galten, noch für welches Schuljahr.
»Es muss sich um ein Abgangszeugnis handeln«, glaubte Kerstin Malm. »Andere Noten behält wohl kaum jemand im Kopf.«
»Ich erinnere mich an meine überhaupt nicht mehr«, meinte Peter Berg.
»Ich auch nicht«, sagte Claesson.
»Aber bei dir ist es ja auch schon so lange her.«
Claesson warf ihm einen schiefen, aber amüsierten Blick zu.
Claesson wusste aus Erfahrung, dass Schleichwege in einem Fall wie diesem nur Verwirrung stifteten. Das hier war richtige Polizeiarbeit. Nichts wurde einem auf einem silbernen Tablett serviert. Es war lange her, dass er sich in eigener Person solcher Aufgaben angenommen hatte. Er wusste nicht recht, ob es ihm Spaß machte, aber jedenfalls handelte es sich um etwas Greifbares. Arbeit zu delegieren hatte zwar seine Vorteile, aber ab und zu konnte bodenständigere Arbeit auch nicht schaden. Der Fall kam einem dadurch näher. Das gefiel ihm.
Die Zwei hob sich von den anderen Zahlen ab.
»Sicher ein Hobby oder eine besondere Begabung wie für Sport oder Musik«, meinte Malm.
»Und warum nicht für Mathematik?«, wollte Claesson wissen.
»Da würden die anderen naturwissenschaftlichen Fächer mitziehen. Oder eine der Sprachen. Aber bei Noten gibt es im Prinzip unendliche Variationsmöglichkeiten. Wie Sie sehen, sind die Fächer in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Da es sich um den naturwissenschaftlichen Zweig handelt, wie das damals noch hieß, ehe man es Programm genannt hat, ist die erste Note die Biologienote, dann kommen Chemie, Englisch und so weiter.«
»Das muss ja ein vollkommen Irrer sein, der sich an seine Noten wie an die Lottozahlen erinnert«, meinte Peter Berg.
»Vermutlich wirklich nicht alle auf der Reihe«, murmelte Claesson.
»Es gibt Leute, die lange Gedichte aufsagen können«, sagte Kerstin Malm.
»Das wirkt allemal unterhaltender.«
Sie hatten die Klasse in einigermaßen gerechte Stapel aufgeteilt. Kerstin Malm war am schnellsten fertig, was Claesson auffiel, der immer gerne wetteiferte. Dass er den Treffer landen könnte, spornte ihn an. Er wollte gerne derjenige sein, der die richtige Zahlenfolge fand.
Kerstin Malm lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. Sie hatte ihre Aufgabe erledigt.
»Soll ich etwas Obst holen? Ich glaube, es liegen noch ein paar Äpfel im Lehrerzimmer.«
»Gerne. Danke!«
Kerstin Malm war okay, zumindest seit sie sich damit abgefunden hatte, dazubleiben und nicht nach Hause zu fahren. Ihr Mann würde sie dann später abholen. Claesson war erst unschlüssig gewesen. Sie hätten das ganze Material natürlich mitnehmen und am Montag im Präsidium durchgehen können, aber dann hätte er das delegieren müssen, da er nach Schonen wollte. Jetzt konnte er sich die Kompetenz der Direktorin zunutze machen und dann die Sache ad acta legen. Außerdem wollte er einfach selbst dabei sein.
Die Zeit verging. Niemand dachte daran aufzuhören. Nicht jetzt.
Kerstin Malm kehrte mit drei Äpfeln zurück. Peter Berg und Claesson hatten sie eingeholt.
»Dann fangen wir mit dem zweiten Jahr an«, sagte sie und biss in ihren Apfel.
Sie hatte rasch die Aufgabe der Vorarbeiterin übernommen. Claesson lehnte sich nicht dagegen auf. Das war ihre Domäne, sie saßen in ihrem Büro, es hatte also kaum einen Sinn zu protestieren.
Jeder bekam zehn Zeugnisse. Sie sahen sie rasch durch, ohne eine vergleichbare Ziffernreihe zu finden. Die Luft bewegte sich nicht. Ein kleines Fenster stand zum Lüften auf, aber Kerstin Malm kippte
Weitere Kostenlose Bücher