Verdacht auf Mord
professionelle Chirurgin beherrschte ihr Metier.
Aber musste jemand, der professionell war, auch mitfühlend sein? Oder nett?
Sie betrat den Laden nicht. Das wäre ihr in der gegenwärtigen Situation zu persönlich vorgekommen. Sie wäre außer Stande gewesen, von ihrer Hochzeit zu berichten, selbstbezogen zu erzählen, dass das Kleid wie angegossen gepasst und die Friseurin die Blumen im Haar richtig gut hingekriegt habe, dass der Brautstrauß mit den pastellfarbenen Rosen, Hortensien und Ranunkeln außerordentlich schön gewesen sei und sie im Landgasthof mit siebenundzwanzig Gästen fürstlich getafelt hätten: Lachs, Hirschsattel und Holundereis, und dass sehr viel gelacht worden sei.
Genau das! Die Hochzeit war sehr lustig gewesen.
Aber dann würde die nette Verkäuferin vielleicht fragen, wie es denn ihrer Tochter gehe, die bei der Anprobe dabei gewesen sei. Sie hatte zwar beide Töchter dabeigehabt, aber die Gefahr bestand, dass die Rede auf Cecilia kommen würde. Dann würde sie zusammenbrechen, in Selbstmitleid versinken und vor der Verkäuferin in Tränen aus brechen.
Sie musste sich noch eine Weile aufrecht halten. Eine Weile noch durfte sie sich nicht gehen lassen. Eine Weile noch musste sie ihre Ruhe haben.
Sie strebte auf dem kürzestmöglichen Weg dem Präsidium entgegen, nahm die neue Brücke über die Gleise, die dort begann, wo früher die Güterabfertigung gelegen hatte. Auf der einen Seite lag Lunda Hoj, eine Fahrradvermietung. Ob sie ein Fahrrad mieten sollte? Ihr fehlte die Kraft, sich dazu zu entscheiden. Sie ging die Holztreppe hinauf, die von einem mehrstöckigen Fahrradparkhaus flankiert wurde. Zum ersten Mal in ihrem Leben befand sie sich in einem Parkhaus für Zweiräder. Lund war zweifellos eine Stadt, in der man auf zwei Rädern am besten vorwärtskam.
Das Polizeipräsidium lag an der Bryggmästaregatan. Ein imposanter Kasten aus rotem Backstein. Sie nannte ihren Namen und musste ein paar Minuten warten. Ungeduldig ging sie im Foyer auf und ab. Dann erschien Gillis Jensen, um sie abzuholen.
Er war ein Mann mit einem gefurchten Gesicht und weichem Schonendialekt.
»Es geht um Ihre Tochter«, sagte er.
»Ja.«
Mehr brachte sie nicht über die Lippen. Mit einem Mal wirkte alles so betrüblich. Vielleicht weil sie die schützende Atmosphäre der Klinik verlassen hatte und sich nun unter normalen, gesunden Menschen befand, die keine Töchter hatten, die niedergeschlagen und betäubt in einem Krankenhausbett lagen.
»Wir haben einige Sachen hier. Unter anderem ihre Kleider, die von der Spurensicherung untersucht werden … und dann noch den Inhalt ihrer Tasche.«
Die Kreditkarte hatte Veronika bereits sperren lassen. Die Brieftasche war verschwunden. Das Handy war auch nicht wieder aufgetaucht, aber damit hatte sie auch nicht gerechnet. Cecilia hatte eines mit einer Prepaid-Karte.
Es galt, so vieles zu beachten. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Sie betrachtete den Inhalt der Plastiktüte. Ein Labello, ein Kamm, ein rosa Lippenstift. Sonst nichts. So nackt, fast armselig.
»Keine Schlüssel?«, fragte sie.
»Nein. Leider. Wir haben uns von einem Schlosser öffnen lassen.«
»Wie bereits erwähnt, haben wir uns ein wenig umgesehen. Wir glauben, dass sich außer uns niemand Zutritt zu der Wohnung verschafft hat. Nichts ist zerstört oder so.«
Gillis Jensen sah aus, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
»Das ist unsere Vorgehensweise … hauptsächlich, um zu sehen, ob wir etwas finden, das …«
»Ja, natürlich.«
»Wir haben nichts entdeckt, das sich direkt mit dem Vorfall in Zusammenhang bringen ließe. Überall standen Umzugskartons und Taschen auf dem Bodén.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Vorschnelle Mutmaßungen sind zu vermeiden, aber das Wahrscheinlichste ist, dass sie den Täter nicht kannte. Soweit wir ihre Kameradin verstehen …«
Kameradin, dachte Veronika, während Gillis Jensen ein Papier hervorzog und betrachtete. Kameradin, das klang vertrauenerweckend und altmodisch.
»Also, Ester Wilhelmsson, die Ihre Tochter im Übrigen auch identifiziert hat. Sie hat ausgesagt, dass Cecilia ihre Wohnung allein verlassen hätte. Sie hätte von der Party ein Taxi nach Hause nehmen wollen.«
Aber warum hat sie dieses Taxi dann nicht genommen? Warum hat sie es bloß unterlassen? Sie musste Cecilia einschärfen, nachts nie allein unterwegs zu sein. Sie musste ihr das ins Gehirn bläuen.
Was dachte sie da? Ins Gehirn? Das war bereits beschädigt.
Das
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