Verdacht auf Mord
Bild des glatt rasierten Kopfes explodierte plötzlich in ihrem Inneren. Die geschlossenen Augen und die hinter dem geflickten Schädelknochen befindliche Unsicherheit.
Vielleicht wurde sie ja nie wieder normal!
Veronika presste die Hände im Schoß zusammen. Sie erkannte, wie unangemessen solche Ermahnungen wären. Cecilia war volljährig. Sie konnte machen, was sie wollte.
»Wie geht es ihr eigentlich?«, fragte Gillis Jensen plötzlich.
»Gut. Den Umständen entsprechend.«
Sie wickelte sich den Riemen ihrer Tasche um den Finger. Ein kalter Schauer erfasste sie. Sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Ihr Blick irrte zwischen den Gegenständen auf dem Schreibtisch hin und her. Monitor, Brieföffner, Ordner, staubige schwarze Kugelschreiber in einem weißen Porzellanbecher mit Polizeiwappen.
Ziemlich unsinnig, hier herumzusitzen. Kriminalinspektor Jensen hatte sicher auch viel zu tun.
Aber Jensen wirkte nicht im Geringsten, als wollte er sie loswerden. Gelassen saß er da und wippte nicht mal mit seinem Stuhl. Seine Ohrläppchen waren lang und dunkelrot, und seine Augenlider waren vom Alter faltig wie die eines sympathischen Bluthundes. Sie entspannte sich. Sie hatte plötzlich einfach nicht mehr die Kraft, sich zusammenzunehmen. Sie wollte das sonnenwarme, etwas stickige Büro, in dem eine nachdenkliche und ungefährliche Stille herrschte, nicht verlassen. Gillis Jensen war keine Plaudertasche. Seine Hände lagen unbeweglich und schwer auf dem Schreibtisch.
»Hat sie schon etwas gesagt?«, fragte er schließlich mit leiser Stimme.
Veronika schüttelte den Kopf.
»Wir werden sie später vernehmen.«
Sie nickte. Laut dem Neurochirurgen würde sich Cecilia an die Zeit unter Narkose nicht erinnern. Barmherzigerweise würde ihr auch jede Erinnerung an die Misshandlung fehlen, hatte der Arzt gemeint. Vollkommene Amnesie, was den Vorfall angehe. Wie sinnvoll Körper und Seele des Menschen doch geschaffen waren, dass man sich an den bösen Blick und animalische Gewalt nicht erinnern musste. Obwohl sie wusste, dass dem nicht immer so war. Die Erinnerung gewisser Menschen vermochte wiederwärtigste, erlittene Tortur Sekunde um Sekunde wiederzugeben. Da war die Leere doch wohl vorzuziehen?
So viele Überlegungen und Fragen, deren Antworten auf sich warten lassen würden. Sie musste sich gedulden.
»Kommt das häufiger vor?«, fragte sie dann nervös.
»Was meinen Sie?«
»Ist es normal, dass junge Frauen in Lund auf offener Straße niedergeschlagen werden?«
Ihre Stimme klang gekränkt und scharf.
»Nein«, erwiderte Jensen, ohne ihr mit dem Blick auszuweichen. »Es kommt vor, hier wie andernorts, aber ich würde nicht behaupten, dass es normal ist.«
»Was steckt für gewöhnlich dahinter?«
Er strich sich übers Kinn.
»Das ist unterschiedlich. Das kommt auch ganz darauf an, wer der Täter ist. Ich vermute, dass Sie über das Motiv nachdenken?«
Sie nickte.
»Manchmal gibt es kein anderes Motiv als das Bedürfnis, Aggressionen auszuleben.«
Natürlich, dachte sie. Es überraschte sie nicht. Höchstens, dass das Böse nun auch sie erwischt hatte und nicht nur die anderen.
»Oft handelt es sich um eine Bande«, sagte Jensen. »So ist es schon immer gewesen. In der Gruppe ist man mutiger, die Identität wird vom Zugehörigkeitsgefühl gestärkt. Sie haben ja sicherlich von den Rockerbanden gehört. Heutzutage kommen sich viele ausgegrenzt vor. Die Gesellschaft hat keinen Platz mehr für alle. Hier in Lund wie auch sonst überall, gibt es einige mehr oder weniger kriminelle Banden.«
Kriminelle Banden. Das klang wie eine Heimsuchung. Wie die Heuschrecken des alten Ägypten.
»Kennen Sie ihre Freunde?«, wollte er wissen.
Sie antwortete mit einem Achselzucken.
»Eventuelle Verehrer, die ihr aus irgendwelchen Gründen nicht wohlwollen?«
Sie starrte nach draußen. Diesig und sonnig. Die Fenster waren lange nicht mehr geputzt worden.
»Nein.«
Mit solchen Idioten gibt sich meine Tochter nicht ab, dachte sie kalt.
Veronika kam nicht auf den Hof, weil die Haustür abgeschlossen war. Sie konnte also nicht nachschauen, welches Fahrrad möglicherweise das von Cecilia war. Außerdem hätte sie ohnehin keinen Schlüssel gehabt, um es aufzuschließen.
Sie hatte den langen Weg zur Tullgatan also vergeblich zurückgelegt. Jetzt stand sie vor dem Haus und konnte Cecilias Wohnung immerhin von außen sehen. Sie kam zu dem Schluss, dass es diejenige hinter zwei leeren Fenstern im zweiten Stock sein musste.
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