Verdacht auf Mord
mit seiner Ankunftszeit geschickt. Aber sie würde erst daran glauben, wenn sie ihn vor sich sah.
Sie hatte ein schmales, autofreies Ende der Straße erreicht und stand vor einem vor Alter ganz schiefen Gebäude mit Treppengiebeln aus rotem Backstein und dem Dom, grau und massiv, direkt dahinter. Auch hier gab es ein Café. Tat man denn in Lund nichts anderes als Kaffee trinken? Diese Stadt musste das Paradies der Kaffeetrinker sein.
»Liberiet« las sie auf einem Schild an dem Gebäude. Errichtet im fünfzehnten Jahrhundert. Die Bibliothek des mittelalterlichen Domkapitels, daher der Name. »Liberi« war ein altertümlicher dänischer Ausdruck für Büchersammlung. Das Gebäude war später in den Besitz der Universität gelangt. Im achtzehnten Jahrhundert hatte man im Obergeschoss einen Fechtsaal eingerichtet. Der Vater der schwedischen Gymnastik, Pehr Henrik Ling, war Anfang des neunzehnten Jahrhunderts der Fechtmeister der Universität gewesen und hatte die Studenten hier im Fechten und in Gymnastik unterrichtet.
Unglaublich!
Lund war als dänische Stadt gegründet worden. So viel wusste sie, und das meinte sie auch sehen zu können. Der Baustil mit den Treppengiebeln, dem Fachwerk und den niedrigen Stadthäusern war ähnlich. Aber wann war Schonen eigentlich schwedisch geworden?
Ihre historischen Kenntnisse waren rudimentär. Claes hätte diese Frage vermutlich beantworten können. Wieso interessierten sich Männer eigentlich normalerweise mehr für Geschichte? Sie selbst war so ahnungslos, dass sie nicht einmal wusste, in welchem Jahrhundert es sich ereignet haben könnte. Noch weniger wusste sie, bei welchem Friedensschluss Schonen zu Schweden gekommen war.
Sie musste wohl oder übel doch etwas essen. Also betrat sie das Café und kaufte eine Dose Mineralwasser und eine Zimtschnecke. Dann setzte sie sich auf eine freie Bank vor dem Dom. Sie legte ihre Jacke neben sich, öffnete die Dose und trank so gierig, dass ihr die Hälfte das Kinn herablief. Dann entledigte sie sich ihrer Schuhe. Die Sonne hatte immer noch Kraft.
Sie hatte nur ein paar Minuten ausruhen wollen, aber blieb jetzt einfach sitzen. Ein ungewöhnlich friedlicher Moment. Ein junges Paar einige Meter von ihr entfernt hatte die Köpfe zusammengesteckt und unterhielt sich leise. Es war nicht schwer zu erraten, worüber sie sprachen. Kosende Liebesworte.
Sie überlegte, ob sie in den Dom gehen sollte. Sie hatte nur noch vage Erinnerungen von ihrem letzten Besuch. Eine mittelalterliche Uhr war eine der Attraktionen. Aber die musste man sich offenbar um zwölf Uhr ansehen, wenn sie das Glockenspiel in Gang setzte und eine mechanische Prozession zu sehen war. Sie hob es sich also für einen späteren Zeitpunkt auf.
Sie öffnete die Augen und erblickte vor sich ein kleines Kind. Es bewegte sich auf dem ungleichmäßigen Pflaster ungelenk vorwärts, fiel hin, weinte aber nicht, sondern richtete sich auf, wie Kinder das tun, und eilte weiter mit der unerschöpflichen Energie, die leider im Laufe der Jahre abnimmt.
Sie hatte Klara nicht vergessen. Aber sie war sich sicher, dass es ihrer jüngeren Tochter gut ging. Claes kümmerte sich um sie. Das war ein großer Trost, und ein entscheidender Unterschied zu der Zeit, als Cecilia klein gewesen war. Damals war sie allein gewesen.
Eine Wespe streifte auf der Suche nach Zuckerresten ihrer soeben verspeisten Zimtschnecke ihre rechte Hand. Sie verhielt sich ganz still, und die Wespe flog bald weiter. Sie betrachtete ihre Arme. Die Mittelmeersonne war kräftig gewesen. Ihr Ehering funkelte auf der sonnenbraunen Haut.
Wohin war nur die Griechenlandreise verschwunden?
Noch vor wenigen Tagen hatte die Sonne über einem steinigen Strand und einem azurblauen Meer gebrannt. Sonnenhut und Wassermelone. Angenehme Trägheit. Claes auf der Decke neben ihr. Frei und entspannt. Geradezu glücklich?
Das Handy riss sie aus ihren Träumereien. Sie freute sich über den Anruf, war aber gleichzeitig auch auf der Hut. Ein Anruf aus der Klinik konnte mit Forderungen verbunden sein. Else-Britt Ek wollte wissen, wie es ihr ginge.
»Ich weiß nicht so recht«, antwortete Veronika.
Am anderen Ende wurde es still. Die Pause war verdächtig lang. Else-Britt war vermutlich von der Klinikleitung dazu ausersehen worden, bei ihr anzurufen.
»Ich sehe ein, dass du dich dazu vielleicht noch gar nicht äußern kannst, aber wir wüssten gerne, wie lange du vermutlich noch wegbleibst.«
Die Frage war äußerst zurückhaltend
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