Verdacht auf Mord
formuliert. Das Leben ging weiter, während sie hier gestrandet war.
Wie lange bleibe ich wohl weg, überlegte sie. Kann ich das beantworten? Wie sollte ich mich im Augenblick auf andere Patienten konzentrieren können?
»Das weiß ich nicht«, wiederholte sie.
»Du weißt schon, ich denke an den Dienstplan …«
Veronika versuchte eine Art innerer Struktur herzustellen. Tage- oder gar wochenweise zu denken. Aber es gelang ihr nicht.
»Diese Woche komme ich keinesfalls.«
Der Seufzer am anderen Ende war kaum zu hören, aber er war da.
»Wie geht es ihr denn?«
Else-Britt war okay. Sie ließ sich nicht nur für Botendienste des Chefs benutzen. Die Frage war aufrichtig und nicht nur aus Höflichkeit gestellt.
»Ich weiß nicht. Im Augenblick gut. Das sagen zumindest die Neurochirurgen.«
Sie lehnte die Stirn gegen den warmen Sandstein des Doms, solide gebaut vor hunderten von Jahren.
»Und wie geht es dir?«
Else-Britt sprach leiser.
»Einigermaßen.«
»Das ist natürlich nicht leicht.«
»Nein. Wir wollen das Beste hoffen.«
Veronika hörte selbst, dass sie forsch klang. Sie wollte das, was sie gesagt hatte, wieder zurücknehmen und genauso traurig klingen, wie sie sich fühlte. Aber das ging nicht. Sie hatte genau diese Forschheit lange geübt. Aufgesetzter Optimismus und unerschütterliches Durchhaltevermögen als Selbstverteidigung gegen Ungerechtigkeiten und Unzulänglichkeiten. Wütend zu sein und Forderungen zu stellen war anstrengend. Forsch und munter zu sein war erträglicher. Oder warum nicht gleich dreist. Welche Strategie hätte sie auch sonst anwenden sollen, um als Teil der Minorität, der sie nun mal angehörte, an ihrem Arbeitsplatz akzeptiert und respektiert zu werden? Lauter Ärzte und Schwestern und dazwischen noch eine Handvoll Leute wie sie selbst.
Viele Dinge wäre sie jetzt gern losgeworden. Aber sie schwieg. Sie wagte es nicht, die Schleusen zu öffnen. Sie war sich auch nicht sicher, ob Else-Britt während der Arbeit Zeit für eine Flut unsortierter und trauriger Vertraulichkeiten hatte.
Was hätte sie auch sagen sollen? Worte reichten nicht aus. Nichts konnte den Zustand ausdrücken, in dem sie sich befand.
»Pass auf dich auf.«
Wie denn?, überlegte sie.
Achtes Kapitel
Donnerstag, 5. September
W ieder diese fordernde Stimme.
»Warum unternehmen Sie nichts?«
Claes Claesson war in eine Sache hineingezogen worden, die ihn eigentlich nichts anging. Aber es ließ sich nun mal nicht ändern.
»Jetzt sind zwei weitere Tage vergangen, und ich weiß immer noch nichts.«
Nina Bodén klang eher wütend als besorgt oder traurig. Ihre tonlose und etwas wehleidige Stimme erweckte in ihm unbehagliche Assoziationen, die weit in die Vergangenheit zurückreichten. Aus diesem Grunde besaß er auch Übung darin, einfach nachzugeben. Seine liebe Mutter hatte jedoch bedeutend mehr Humor besessen, selbst wenn sie geschimpft hatte wie ein Rohrspatz. Außerdem war sie vorhersehbarer gewesen, jedenfalls für ihn. Sie hatte an etwas gelitten, was er heute als eine Oberschichtsneurose bezeichnen würde. Plötzlich hatte sie ihr beengtes Dasein nicht mehr ertragen, sondern war wie ein trockener Ast zerbrochen und hatte die Kontrolle, nach der sie ihr ganzes Leben lang gestrebt hatte, unbekümmert aus der Hand gegeben. Höflich und wortgewandt sollte man sein! Und am liebsten auch noch fröhlich!
Wieso hatte die Vermittlung dieses Gespräch nur zu ihm durchgestellt? Er kannte natürlich die Antwort: So war die Telefonistin eine lästige Anruferin schnell wieder losgeworden. Außerdem konnte sie ja auch nicht wissen, dass er formal noch nicht wieder im Dienst war. Er hatte seine Beurlaubung verlängern lassen, um seine Tochter in den Kindergarten eingewöhnen zu können. Er saß eigentlich nur im Präsidium, um sich seelisch vorzubereiten. Auch ich muss mich eingewöhnen, dachte er leicht amüsiert, sah der Prozedur aber mit Gelassenheit entgegen. Er hatte nicht vor, lange herumzuzicken. Er war sogar verdammt froh, endlich mal wieder etwas in Angriff zu nehmen. Etwas für Erwachsene.
Aber nicht den verschwundenen Gatten von Nina Bodén. Außerdem gehörten Vermisste nicht zu Claessons Aufgaben, egal, ob es sich dabei um entlaufene Katzen oder entlaufene Ehemänner handelte. Dafür war das Dezernat für allgemeine Kriminalität zuständig. Und das sagte er auch.
»Aber die kümmert das einen feuchten Dreck. Läuft das immer so bei der Polizei? ›Warten Sie ab‹, sagen die nur. Wie lange
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