Verdacht auf Mord
Mutter den kleinen Körper an die Brust legte und mit einem Handtuch abrubbelte. Ein leises Winseln. Mit der Zeit wurde es immer stärker, und zum Schluss war das gesegnete Schreien da.
Gustav Stjärne benimmt sich merkwürdig, dachte Ester, als sie später mit der Krankenakte dasaß. Aber das würde sie für sich behalten und nicht Leo erzählen.
Es dröhnte über den Hausdächern. Veronika legte die Hand über die Augen und schaute hoch. Ein Hubschrauber hob ab. Wie ein riesiger Teller lag der Helipad auf dem Dach des Zentralblocks.
Sie ging durch den Haupteingang und eilte dann an der Informationstheke, dem Friseur und dem Kiosk vorbei zu den Fahrstühlen. Im zehnten Stock verließ sie die Kabine. Als sie den Schwestern in dem langen Korridor mit den blauen Türen zunickte, fühlte sie sich fast zu Hause. Diese erwiderten ihr Lächeln.
Cecilia lag in einem Zimmer nach Westen. Veronika blieb in der Tür stehen. Das weiche Licht des Nachmittags fiel schräg auf den Rücken von Dan Westman.
Sie konnte sich nicht erinnern, dass seine Schultern so gebeugt gewesen waren. Hilflos stand er ein Stück vom Bett entfernt, und zwar näher am Fuß- als am Kopfende. Veronika stellte fest, dass die Schwester, die sich im Hintergrund zu schaffen machte, zu den weniger netten gehörte. Sie mochte sie nicht. Sie war korrekt und sicher sehr tüchtig. Bei den Maschinen und beim Kurvenschreiben schien sie sich am wohlsten zu fühlen. Beim Messen und beim Nachfüllen. Auf eine niederträchtige Art hatte sie Veronika dazu aufgefordert, doch mehr an sich zu denken, häufiger Kaffee trinken zu gehen, häufiger auszuruhen, frische Luft, lange Spaziergänge, vor allen Dingen ordentlich zu essen. Die Schwester wollte sie von der Bettkante weghaben, wagte das aber nicht offen auszusprechen. Ihre eigene Bequemlichkeit verpackte sie in Anteilnahme.
Aber wer konnte schon an sich selbst denken, wenn das eigene Kind schwer verletzt war? Jetzt hatte sie zumindest getan, was man ihr befohlen hatte. Sie hatte einen großen Spaziergang auf dem Friedhof gegenüber unternommen.
Dan war grau im Gesicht. Hilflos und wie zwei Standbilder aus einer vergangenen Zeit sahen sie sich an.
»Mein Gott!«, sagte er schließlich. Er wirkte entsetzt.
Veronika besaß zweifellos einen gewissen Vorsprung, fast zwei Tage am Krankenbett ihrer Tochter. Außerdem hatte sie mehr Übung darin anzusehen, was aus einem Menschen werden kann. Aber ihre Augen hatten sich trotzdem nicht daran gewöhnt. Zärtlich betrachtete sie den rasierten Kopf. Sie waren sich so auffällig ähnlich, Dan und Cecilia. Das wurde jetzt, wo das Haar fehlte, schmerzhaft deutlich. Dieselbe runde Kopfform und dieselben Ohren, die spitz vom Kopf abstanden.
Sie legte ihm die Hand in den Rücken.
»Sieht schlimmer aus, als es ist«, flüsterte sie. »Das wird schon wieder.«
Ohnmächtig rang er die Hände.
»Wie kannst du das nur sagen? Sie ist ja wie tot …«
Seine Stimme wurde laut. Die Schwester warf ihm von ihrem Schreibtisch auf der anderen Seite des Fensters einen finsteren Blick zu.
»Pst. Nicht so …«
Veronika legte den Zeigefinger an die Lippen. Wir müssen Cecilia schonen, dachte sie. Man konnte nie wissen, was durchdrang. Sie konnte sich nicht wehren und sich vor dem, was um sie herum geschah, nicht schützen. Sie konnte das Zimmer nicht verlassen, widersprechen oder sonst wie protestieren.
»Gibt es jemanden, mit dem man sprechen kann? Der Bescheid weiß«, sagte er etwas ruhiger.
Veronika nickte.
»Am Spätnachmittag ist Visite.«
Sie setzte sich ans Kopfende. Vorsichtig strich sie mit den Fingerspitzen über den kahlen Schädel. Sie spürte die ersten Stoppeln und hörte das gleichmäßige, fast einschläfernde Geräusch des Respirators neben dem Bett. Das Öffnen und Schließen der Ventile. Die Maschine war auf fünfzehn Atemzüge pro Minute eingestellt.
Dan wagte sich vor. Stand dicht hinter Veronika. Dann streckte er zögernd seine Hand aus.
»Sie ist warm«, sagte er.
Veronika nickte und machte ihm vorsichtig Platz.
Drei ernste Erwachsene in einem kleinen Zimmer. Der Neurochirurg, Dan und Veronika. Beide Eltern zusammen, zum ersten Mal seit sehr langer Zeit, dachte Veronika.
Der Arzt hatte gerade gesprochen. Alle diese Worte. Und jedem einzelnen maßen sie so viel Bedeutung zu.
Veronika mochte den Chirurgen, er wirkte nicht, als wollte er ihnen etwas vormachen, um selbst in einem besseren Licht zu erscheinen. Er schien mit beiden Beinen auf der Erde zu
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