Verfallen
und würde im Herbst aufs Gymnasium wechseln. Ich ging noch zur Grundschule und war platt wie ein Pfannkuchen. Nichts zeichnete sich ab.
»Wie kommst du denn plötzlich darauf?«, fragte ich.
»Weil es so ist! Schwestern wohnen zusammen, haben dieselben Eltern und sind blutsverwandt. Deswegen kann sie nichts trennen. Das ist etwas anderes als bei Freundinnen. Freundinnen können sich aus den Augen verlieren.«
»Wir aber nicht.«
Um uns herum spielten Kinder, viel jünger als wir. Ihre Mütter waren in Zeitschriften vertieft oder mit den Kleinen beschäftigt. Ein paar Jahre später würden Dianne und ich umziehen an Stellen, wo Sixpacks mit Bier und Colaflaschen herumstanden anstatt Sonnenschirme und Wickeltaschen. Treffpunkte am Rande des Parks, weiter entfernt vom Wasser und im Schatten der Bäume, wo die Musik lauter aufgedreht wurde.
Doch damals fühlten wir uns noch wohl an unserem Stammplatz, zu dem ich in diesem Sommer erstmals ohne meine Eltern mit dem Rad fahren durfte. Solange ich mich erinnern konnte, kamen wir hierher, und sogar schon davor: Ich habe Fotos von mir in einem Reisebettchen gesehen, auf dieser Wiese, mit dem rot-weißen Schlagbaum verschwommen im Hintergrund.
Dianne holte tief Luft und sagte: »Wenn ich wegziehe, sehen wir uns nie mehr wieder. Dann begegnen wir uns eines Tages in der Stadt, wenn wir schon lange erwachsen und verheiratet sind, und wissen nicht mal mehr, dass wir einmal Freundinnen gewesen sind.«
Ich war stumm vor Entsetzen. Dann rief ich: »Niemals! Warum sagst du so was?«
»Vielleicht zieht mein Vater woanders hin. Oder meine Mutter.«
Ich erschrak. »Haben sie sich verkracht?«
Dianne wandte den Blick von mir ab und zog ein Häutchen vom Nagelbett. »Meine Mutter hat gesagt, sie würde lieber in einem undichten Wohnwagen hausen als weiterhin mit ihm unter einem Dach zu leben. Sie hat gesagt, sie würde ihn hassen und er könne ihretwegen tot umfallen. Da hat mein Vater gesagt, sie soll doch abhauen.«
»Wollen sie sich scheiden lassen?«
»Ich glaube schon.«
Ich setzte mich auf. Diannes Eltern wollten sich trennen? Was würde dann aus Dianne und mir werden? Ich wollte nicht, dass sie wegging, ich konnte nicht ohne sie sein! »Und über dich haben sie nichts gesagt?«, fragte ich.
»Nein.«
»Bist du sicher, dass sie umziehen? Vielleicht bleiben dein Vater oder deine Mutter neben uns wohnen?«
»Kann sein.« Sie zuckte mit den Schultern und sah unglücklich aus. »Ich will nicht hier weg. Ich will nicht schon wieder umziehen. Am liebsten würde ich bei euch bleiben.«
Sie suchte meine Hand. Ich nahm sie ganz fest in meine. Beide drückten wir immer fester und fester zu.
Es schmerzte schon ein wenig. Trotzdem zog ich meine Hand nicht zurück. Ich war stolz darauf, dass Dianne so gerne bei mir bleiben wollte.
»Wir könnten Blutsschwestern werden«, flüsterte sie. »Dann wären wir richtige Schwestern.«
»Wie geht das denn?«
»Wenn es möglich wäre, würdest du es dann wollen?«
»Ja. Sofort.«
»Auch, wenn es wehtut?«
Ich nickte.
»… und ganz doll blutet?«
Ich nickte, nicht mehr ganz so überzeugt. Wo führte das hin? Was wollte sie? Konnten wir echte Schwestern werden? Aber wie?
Mit einem geheimnisvollen Blick rollte sie sich auf den Bauch, zog ihre Strandtasche zu sich und kramte darin herum. »Aber nicht erschrecken!«, mahnte sie.
Mit großen Augen sah ich zu, wie sie etwas Glänzendes aus der Tasche holte. Die Sonne spiegelte sich auf der blanken Oberfläche wider.
Sie hielt es in der Hand, knapp über dem Badehandtuch und von der Strandtasche verborgen, sodass es keine der Mütter in unserer Nähe sah.
Ein Kartoffelschälmesser.
9
Es ist stockfinster, egal, ob ich die Augen öffne oder geschlossen halte. Ich sehe absolut nichts. Erschrocken taste ich auf dem kalten Nachttischchen herum, finde mein Handy und öffne es. Das Display leuchtet auf. Ich bin also nicht erblindet. Mit halb zugekniffenen Augen sehe ich nach, wie spät es ist: drei Uhr nachts.
Die einzige Wärmequelle, die ich vor dem Schlafengehen entdeckt habe, ist ein kleiner gusseiserner Holzofen im Wohnzimmer, ein altes Ding mit schwarz verrußten Scheiben, das vor der fensterlosen Wand auf einem beige gekachelten Sockel steht. Aus der Asche in der Schublade und auf dem Rost schloss ich, dass der Ofen in Gebrauch ist, aber im Haus fand ich nirgendwo Holz, und ich traute mich nicht, draußen im Dunkeln danach zu suchen.
Das rächt sich jetzt. Meine Arme und Beine
Weitere Kostenlose Bücher