Verfallen
Dielenfußboden. Ein Wäscheschrank und ein Einzelbett stehen darin, und vor dem Fenster hängen dicke Gardinen und braune Stores, die bis auf den Boden fallen. In dem Zimmer ist es muffig und kälter als im übrigen Haus. Wahrscheinlich wird es selten benutzt.
Ich gehe zurück, am Bad und an der Treppe vorbei, um die dritte und letzte Tür zu öffnen. Ich strecke schon die Hand nach der Klinke aus, als ich plötzlich mitten in der Bewegung erstarre. Reglos bleibe ich stehen. Wie aus dem Nichts trifft mich die Erkenntnis, dass Dianne durchaus zu Hause sein könnte.
Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich blicke die Klinke an und dann meine Finger, die auf weitere Befehle warten.
Mit einer schnellen Bewegung greife ich die Klinke und öffne die Tür einen Spalt. Auch in diesem Raum ist es kalt, aber anscheinend um einige Grade wärmer als in dem anderen Schlafzimmer. Vor meinen Füßen erstreckt sich ein unbehandelter Holzfußboden. Mit einer Hand fahre ich am Türpfosten entlang, suche und finde einen Lichtschalter und betätige ihn. Vorsichtig mache ich die Tür weiter auf, Zentimeter für Zentimeter.
Ein Schlafzimmer. Auf der rechten Seite steht genau unter dem Fenster ein nachlässig gemachtes Doppelbett. Niemand liegt darin. Langsam puste ich meinen angehaltenen Atem aus. Ich gehe einen Schritt nach vorn, schlinge die Arme um mich und durchquere dann das Zimmer. Der Dielenfußboden knarrt unter meinem Gewicht.
Ein Beistelltisch neben dem Bett dient als Nachtschränkchen und bietet Platz für einen Digitalwecker, Krimskrams und eine zerlesene französische Zeitschrift. Unter dem Bett sehe ich ein Paar Zehensandalen, Kleidung liegt im ganzen Zimmer verstreut herum. Ich erkenne Diannes Lieblingspullover, hellgrün mit V-Ausschnitt.
»Wo bist du?«, flüstere ich leise.
Das Zimmer hat zwei Fenster, eines über dem Bett, zur Rückseite des Hauses, und eines zur Vorderseite hin. Ich ziehe die Gardinen beiseite und sehe die dunklen Umrisse meines Autos auf dem Hof. Der Mond schimmert auf dem Lack und taucht die Scheune und die Stoppelfelder dahinter in ein bläuliches Licht. Weit in der Ferne, ein gutes Stück hügelabwärts, zeichnet sich pechschwarz ein Waldrand ab.
Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Fast neun Uhr. Ich sollte mir allmählich ein Hotel suchen, das wäre am vernünftigsten, aber ich habe hier in der Gegend keines gesehen, ja nicht einmal Hinweisschilder, die zu einem führen könnten.
Die Etap- und Formule-1-Hotels, an denen ich früher am Abend vorbeigefahren bin, liegen ziemlich weit entfernt, und ich bin mir so gut wie sicher, dass sie am Empfang abends nicht besetzt sind. Ohne Kreditkarte könnte ich wahrscheinlich nicht einmal einchecken.
Doch warum sollte ich eigentlich in ein Hotel gehen? Vor morgen früh brauche ich nichts zu essen, im Moment bin ich noch von Chips, Cola und Schokolade mehr als satt. Bestimmt mache ich mir umsonst Sorgen. Dianne war noch nie ein großes Organisationstalent. Sie könnte jeden Moment nach Hause kommen, und dann bin ich lieber hier und trinke mit ihr ein Bier, als allein und halb verrückt vor Sorge in einem Hotelzimmer zu sitzen.
Durch die Vordertür gehe ich hinaus auf den Hof, hole meine Reisetasche aus dem Kofferraum und schließe mein Auto ab. Es ist kühl, ja kalt, und der Wind hat aufgefrischt. Ich eile zurück ins Haus, schleppe die Tasche nach oben und öffne die Tür zu dem L-förmigen Schlafzimmer.
Egal, ob sie heute Abend noch nach Hause kommt oder nicht: Dianne wird sicherlich nichts dagegen haben, wenn ich heute Nacht hierbleibe.
8
Wir waren schwimmen gewesen und lagen auf dem Rücken im Gras. Wassertropfen verdunsteten auf unserer Haut. Wir rochen nach Seegras und stehendem Wasser.
»Ich wünschte, du wärst meine Schwester«, seufzte Dianne.
»Aber das bin ich doch.« Spielerisch stupste ich sie in die Seite. »Wir sind doch beinahe Schwestern. Beinahe-Schwestern.«
Sie sah mich eindringlich an. »Ich meine das ernst.«
Ich erschrak ein wenig vor ihrer plötzlichen Heftigkeit und wusste nicht recht, worauf sie hinauswollte. Deswegen wartete ich ab.
»Schwestern bleiben immer miteinander verbunden, egal, was passiert«, fuhr sie fort. »Freundinnen nicht.«
Diannes Gesicht war rot verbrannt; sie hatte eine zarte Haut. Im Sommer bekam sie immer Sommersprossen: große, orangefarbene Flecke auf Nase und Stirn. Sie hasste sie.
Ich fand sie schön. Ich fand alles an Dianne schön.
Sie war zwölf, hatte bereits einen Brustansatz
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