Verfallen
und am Ende wieder ansteigt. Am höchsten Punkt zeichnet sich der Waldrand vor dem zinnfarbenen Himmel ab. Der Lichtstrahl von heute Nacht kam also zweifellos aus dem Wald.
Plötzlich streicht etwas an meinen Beinen entlang, und der Schreck fährt mir in die Glieder. Etwa in Kniehöhe starrt mich eine Katze reglos an. Sie hat gelbe Augen und ein auffälliges weißes Abzeichen, das an ihrem Kinn beginnt, schräg über den Nasenrücken verläuft und knapp über ihrem linken Auge endet.
»Oh, hallo!«, sage ich.
Das Tier stößt einen tiefen, heiseren Laut aus, der gar nicht zu ihm zu passen scheint.
»Ich glaube, du bist mir ein bisschen unheimlich.«
Der Kater starrt mich weiterhin an, den Schwanz hoch erhoben, die Augen halb geschlossen.
Ich traue mich nicht, ihn zu streicheln, und verschränke ungeschickt die Arme.
Eine Weile streicht er noch um meine Beine, dann verliert er das Interesse und verschwindet mit ein paar eleganten Sprüngen aus meinem Blickfeld.
Nachdem ich mich vergewissert habe, dass nicht noch mehr Katzen in der Nähe sind, die mit mir Bekanntschaft schließen wollen, wende ich mich dem dritten und letzten Gebäude zu, das am anderen Ende des Grundstücks an der Grenze zum Stoppelfeld liegt.
In den Niederlanden sind Hangars selten, man sieht sie fast ausschließlich auf Flugplätzen. In Frankreich auf dem Land sind sie mir schon öfters aufgefallen. Sie sind natürlich kleiner, so wie dieser hier, und werden als Schuppen oder Lagerraum benutzt. Diannes Hangar gleicht einer rostigen Raupe, grau mit braunen Flecken, etwa vier Meter hoch und vielleicht fünfzehn Meter lang. An einigen Stellen sind die geriffelten Wände vollständig durchgerostet. Die Tore fehlen, und die Führschiene, in der sie einmal gerollt sind, hat sich auf einer Seite gelöst. Drinnen wächst Unkraut, und es riecht ein wenig nach Mist und etwas anderem, was mich an Tiere erinnert, doch auch dieser Raum ist so gut wie leer. Wo immer sich Dianne auch herumtreibt, in Le Paradis ist sie jedenfalls nicht.
Einer plötzlichen Eingebung folgend suche ich die Nummer von Diannes Mutter Gerda heraus, die auf Ameland wohnt. Kurz nach Diannes achtzehntem Geburtstag hat sie sich dort mit ihrem neuen Lebensgefährten, einem wesentlich älteren Saxofonisten, niedergelassen.
Ich muss nicht lange warten. Gerdas Stimme klingt noch lauter und schriller als in meiner Erinnerung. Ich kann sie mir lebhaft vorstellen: große, ausdrucksvolle Augen, knallrot geschminkte Lippen und eine wilde Frisur in leuchtendem Orange.
»Gerda? Hier ist Eva. Geht es dir gut?«
»Eva? Eva! Lange nichts von dir gehört! Wie geht es dir? Immer noch die rasende Reporterin?«
»Ja«, lüge ich.
»Soll ich dir mal einen Tipp geben? Du solltest eine Reportage über Henk und sein Art-at-the-Sea -Projekt schreiben. Alle Künstler auf der Insel nehmen daran teil. Auch Hendrik-Jan Heemstra. Den kennst du doch, oder, Hendrik-Jan Heemstra?«
Noch nie von ihm gehört. Bestimmt ein Künstler, der die Insel selten verlässt.
»Nein, eigentlich nicht«, antworte ich und höre mir noch ein paar Minuten lang ihre Ausführungen über verschiedene, mir unbekannte Künstler an, die bei ihr und Henk ein und aus gehen.
Irgendwann habe ich genug und unterbreche sie abrupt. »Entschuldige, Gerda, ich habe es eilig. Ich habe dich eigentlich wegen Dianne angerufen. Hast du eine Ahnung, wo sie sein könnte?«
»Wie meinst du das?«
»Ich versuche sie schon seit einer Weile zu erreichen, aber sie geht nicht ans Telefon und antwortet nicht auf meine Mails. Hast du in letzter Zeit von ihr gehört?«
Sie schweigt einen Moment. Dann flötet sie: »Nein, es muss mindestens zwei Wochen her sein, dass ich mit ihr telefoniert habe. Oder drei, wenn ich es mir recht überlege. Sie hat noch nie gern telefoniert, aber jetzt, nachdem sie in die Pampa gezogen ist, höre ich rein gar nichts mehr von ihr. Sie hat wohl zu viel anderes zu tun. Machst du dir etwa Sorgen um sie?«
»Ja, ein bisschen. Wir hatten verabredet, dass ich am Samstag zu ihr fahre, und ich wundere mich darüber, dass sie sich so gar nicht meldet.« Gerda braucht noch nicht zu wissen, dass ich von Frankreich aus anrufe.
»Dianne kann sehr gut auf sich aufpassen, das müsstest du doch inzwischen wissen. Nach … wie lange kennt ihr euch jetzt eigentlich, zwanzig Jahre? Fünfundzwanzig?«
»So um den Dreh, glaube ich«, antworte ich aus Höflichkeit.
Ich höre, wie sie vor sich hin murmelnd eine Zigarette anzündet und
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