Verfallen
verging die Angst schnell, und ich schlief ein.
Doch meine Mutter ist nicht hier, und ich denke natürlich nicht daran, sie anzurufen. Ich bin siebenundzwanzig, keine sieben mehr, und sie hat momentan genug mit sich selbst zu tun. Meine Eltern sind seit fast dreißig Jahren zusammen. Man sollte meinen, dass ein Paar nach so langer Zeit perfekt aufeinander eingespielt ist, wie ein gut geölter Mechanismus, dessen Zahnräder routiniert ineinandergreifen. Doch die Dauer einer Beziehung allein scheint dafür keine Garantie zu bieten. Seitdem mein jüngerer Bruder Dennis an der Universität Nijmegen studiert, herrscht zu Hause eine angespannte Atmosphäre. Meine Mutter hackt fortwährend auf meinem Vater herum. Er kann ihr nichts mehr recht machen, als sei es seine Schuld, dass es ihr schlecht geht.
Ich habe den Eindruck, dass jede Veränderung der Alltagsroutine ihre Beziehung erneut auf die Probe stellt. Dabei durchleben sie nicht ihre erste Krise; ich kann mich an frühere Spannungen erinnern: Als mein Vater sich als Steuerberater selbstständig machte und fortan von zu Hause aus arbeitete, stritten sie sich in den ersten Monaten unablässig. Später gab es jedes Mal Probleme, wenn eines der Kinder flügge wurde.
Die jetzige Krise erlebe ich jedoch als die schlimmste bisher. Mama hat ihren Rhythmus immer noch nicht gefunden, aber vielleicht ist das auch zu viel verlangt, denn schließlich ist es noch nicht lange her, dass Dennis ausgezogen ist.
Ich kenne meine Mutter nicht anders als mit den Kindern und dem Haushalt beschäftigt: staubsaugen, putzen, nähen, kochen, waschen, bügeln. Die Emanzipationswelle ist an ihr vorbeigeschwappt. Mein Vater hat im Haushalt nie einen Finger krumm gemacht, aber nicht, weil er die Arbeit scheute, sondern weil meine Mutter es ihm nicht erlaubte. Ich vermute, dass ihre schönsten Jahre die waren, als wir klein waren. Als sie noch die Achse war, um die sich alles drehte, als sie für uns sorgen und sich um uns kümmern konnte und wir sie jeden Tag in Anspruch nahmen.
Meine Mutter mag Trubel, ein volles Haus, notfalls voll mit Kuckuckskindern – keinen um sich zu haben, für den sie sorgen kann, bedrückt sie.
Das war, wenn ich es richtig verstanden habe, auch die erste Diagnose des Therapeuten, den meine Eltern konsultiert haben: Meine Mutter leidet unter dem »Empty-Nest-Syndrom«, dem Verlust ihrer flügge gewordenen Kinder.
10
Mein Frühstück besteht aus zwei Pfefferminzdragees aus meiner Handtasche und einer Tasse löslichem Kaffee aus Diannes Küchenschrank. Das Kaffeepulver kann den Geschmack des Leitungswassers nicht überdecken: eine Mischung aus Chlor, Kalk und etwas Metallischem.
In Diannes Kühlschrank habe ich Wintermöhren gefunden, Ziegenkäse und ein Einweckglas voll säuerlich riechendem Joghurt. Das Brot, das in einer geschlossenen Blechdose lag, ist ausgetrocknet. In einem der Küchenschränke stehen Wein und Pastis, doch nach Mineralwasser, Bier oder Cola suche ich vergebens.
Ich schließe die Hintertür ab, lege den Schlüssel an seinen Platz in der Gießkanne, umrunde das Haus und betrete den Hof. Es herrscht nicht mehr die gleiche Stille wie gestern Abend, die Umgebung ist zum Leben erwacht. Ich höre einen Hund bellen und das Geräusch eines Autos oder Traktors, wenn auch weit entfernt. Der Himmel ist bewölkt, und ein intensiver Geruch nach feuchtem Herbstwald und Holzfeuer liegt in der kühlen Luft. Nicht unangenehm.
Auch die Gebäude wirken tagsüber freundlicher. Mir fällt auf, dass die Dächer nicht dunkel, sondern mit matt orangefarbenen Ziegeln gedeckt sind, unterbrochen von dunkleren, die große, rautenförmige Muster bilden. Diannes Haustür war in ferner Vergangenheit rot lackiert, könnte aber mittlerweile dringend einen neuen Anstrich gebrauchen.
Die großen Scheunentüren knarren, als ich sie öffne. Drinnen ist es still und dämmrig. Hoch über meinem Kopf liegen die Dachpfannen auf einer kompliziert aussehenden Holzkonstruktion. In den Sparren hängen verlassene Schwalbennester. Wo ich auch hinsehe, wiegen sich Spinnweben leise im Luftzug. An der Wand stehen rostige Gartengeräte, auf denen sich Staub sammelt, und in der Mitte liegen Ersatzteile, die von Landwirtschaftsmaschinen stammen könnten. Ich durchstreife die ganze Scheune, um sicherzugehen, dass ich nichts übersehen habe, und verlasse sie dann wieder. In der Scheune ist nichts.
Ich drücke beide Türen hinter mir zu und drehe mich zum Feld um, das anfangs leicht abfällt
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