Verfallen
in die Schule zu gehen.
»Schläfst du, Eva?«
Wieder plagte mich das schlechte Gewissen, das mich schon seit dem Morgen verfolgte.
Noch nie zuvor hatte ich meine Mutter angelogen, jedenfalls nicht so richtig.
Dianne behauptete, es sei ganz einfach zu lügen. Sie lüge ihre Eltern so oft an, das ginge schon fast automatisch. Dass es mir so schwerfiel, lag wohl einfach daran, dass ich es noch lernen musste.
Ich schüttelte den Kopf.
»Und, wirkt die Tablette?«
»Ich glaube schon«, antwortete ich, wie ich hoffte mit einem Mitleid erregenden Stimmchen.
»Ich müsste mal kurz zu Oma.«
Meine Oma wohnte in einer Seniorenwohnung neben dem Altenheim. Meine Mutter ging sie fast jeden Tag besuchen. Am Abend zuvor kochte sie dann nicht für fünf, sondern für sechs Personen – oft auch für sieben, wenn Dianne zum Essen blieb. Omas Portion wurde in eine feuerfeste Form gefüllt und in den Kühlschrank gestellt. Am nächsten Tag brachte ihr meine Mutter das Essen und nahm die leere Form vom Vortag wieder mit.
Meine Mutter sorgte für meine Oma. Wenn sie es nicht täte, würde sie zu wenig essen, meinte sie. Zu wenig und vor allem zu ungesund. Für sich allein machte sich meine Oma nicht die Mühe, frisches Gemüse zu kaufen, zu putzen und zuzubereiten. Da begnügte sie sich lieber mit einem Kräcker und einem Stück Käse.
Meine Mutter setzte sich auf meinen Bettrand, sodass die Matratze einsank und ich schief lag. Sie legte mir die Hand auf die Stirn. »Du fühlst dich schon nicht mehr so heiß an.«
Ich sagte nichts. Am Morgen hatte ich meine Stirn minutenlang gegen den Heizkörper gedrückt. Eine Idee von Dianne – meine Nachbarin, beste Freundin und Beinahe-Schwester steckte voller praktischer Tipps.
»Vielleicht bist du gar nicht richtig krank, sondern nur ein bisschen müde?«
»Kann sein«, antwortete ich.
Sie gab mir einen Kuss auf die Nase. »Bleib mal schön liegen. Ich gehe deine Brüder von der Schule abholen und Oma das Essen bringen.«
Ich nickte.
»Kommst du so lange allein zurecht?«
»Na klar.«
»Du weißt, dass du mich bei Oma anrufen kannst, wenn du mich brauchst. Und denk daran, lass niemanden herein.«
13
Eine Staubwolke wirbelt auf, als ich die schweren Holzscheite in meinen Armen fallen lasse. Ich stapele das Holz auf dem Sockel neben dem Ofen und gehe hinaus, um noch mehr zu holen.
Diannes Holzvorrat liegt hinter dem Haus. Die gespaltenen Blöcke und zurechtgesägten Äste bilden eine niedrige Mauer an der Grenze zum Wald. Sie wird von einer orangefarbenen Plane geschützt, die mit schweren Baumstümpfen und Steinen beschwert ist. Ich packe so viele Scheite, wie ich tragen kann, in meine Armbeuge. Ein heftiger Regenschauer hat die Wiese hinter Diannes Haus durchweicht. Die Feuchtigkeit ist in meine Leinenturnschuhe und die Hosenbeine meiner Jeans gezogen. Ich zittere vor Kälte.
Die Natur hier ist unfreundlich, denke ich bei mir, aber nicht halb so unfreundlich wie die Bewohner. Für heute habe ich genug von ihnen. Ich will niemanden mehr sehen, ja, ich habe nicht einmal Lust, Erwin anzurufen. Er hat mir heute schon zwei SMS geschrieben, aber ich habe noch nicht darauf geantwortet, aus Sorge, meine Wut an ihm abzureagieren.
Als ich mich mit den Armen voll Feuerholz dem Haus nähere, fällt mir eine Nische in der Außenwand auf. Darin steht eine Gasflasche – graugrün, vom Umfang einer kompakten kleinen Regentonne. Dieselben Gasflaschen habe ich vor dem Supermarkt im Dorf gesehen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Kassiererin Dianne nicht kennt. Vielleicht arbeitet sie erst seit Kurzem dort. Oder sie ist nicht sehr aufmerksam. Oder beides.
Ich bin so gespannt darauf, was Dianne zu erzählen hat! Vielleicht hilft es mir zu verstehen, warum ihre Beschreibungen sich so wenig mit den wahren Zuständen hier decken. Sie hat ihr neues Leben viel zu rosig dargestellt. Denn worüber wir auch sprachen und wie lange wir auch am Telefon hingen, nie hat sie etwas von fremdenfeindlichen Dorfbewohnern erwähnt. Sie muss doch Probleme mit ihnen haben oder zumindest gehabt haben.
Mindestens eine Viertelstunde lang mühe ich mich mit zusammengeknülltem Papier, Zweigen und Feuerzeug ab. Meine Geduld wird mit einem leise knisternden Feuer belohnt, das das Wohnzimmer in eine orangefarbene Glut taucht und gleich ein bisschen Wärme verbreitet. Ich lege noch einen Holzscheit darauf und schließe die Ofenklappe. Hoffentlich geht das Feuer nicht wieder aus; Dianne mag eine Veranlagung
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