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Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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aufgedreht. Rechts befindet sich der Schankraum, links das Restaurant. Weiße Wandvertäfelung, Holztische.
    An zwei Tischen sitzen Männer, die auf mein Eintreten mit keinem Wort reagiert haben, mich aber ungeniert anstarren. Sie sind zu fünft. Vielleicht sind es dieselben, die ich hier gestern Abend habe sitzen sehen. Könnte ohne Weiteres sein. Sie tragen karierte Hemden, Pullunder und Jeans.
    » Messieurs «, grüße ich und nicke höflich. Im Studium wurde uns eingetrichtert, dass Franzosen sehr auf Umgangsformen achten und man im Zweifelsfall lieber ein wenig zu förmlich als zu familiär auftreten sollte.
    Einer brummt etwas Unverständliches, die anderen gaffen mich weiterhin an, als hätte ich mich in die Männertoilette verirrt. Ich bemerke, dass sie Lederschuhe mit Gummisohlen tragen. Ihre Hände sind schmuddelig und voller Schwielen. Das sind Männer, die auf dem Land oder auf dem Bau arbeiten.
    »Guten Tag«, fahre ich mit meinem herzlichsten Lächeln fort.
    Keine Reaktion.
    »Entschuldigen Sie die Störung.« Und, mit einem Wink zur Straße hin: »Die junge Dame im Supermarkt hat mich an Sie verwiesen. Sie meinte, dass Sie mir vielleicht weiterhelfen könnten.«
    Die Männer blicken mich stumm an. Keiner sagt etwas.
    Ich habe das Gefühl, immer kleiner zu werden. Kein Zweifel, das sind Dorfbewohner, Einheimische. Ich mache mir keine falschen Hoffnungen – die werden mir bestimmt nicht helfen. Trotzdem gebe ich nicht auf. Ich tue doch nichts Böses. Wenn sie beschließen, mich unhöflich zu behandeln, dann sagt das mehr über sie aus als über mich.
    »Äh … ich bin zu Gast in Le Paradis, im Haus meiner Freundin«, stottere ich. Mein Französisch ist gut, sogar ausgezeichnet, aber allmählich zweifle ich an jeder Verbform, die mir über die Lippen kommt.
    »Hab ich noch nie gehört«, murmelt einer der Männer schließlich, nachdem ich ausgeredet habe.
    Ein Mann vom dunklen Typus eines Spaniers fängt an zu lachen und trinkt von seinem Pastis. Niemand fällt in sein Lachen ein.
    Von der Theke her kommt ein Mann auf mich zu, um die fünfzig, schlank, mit einer langen weißen Schürze. Er trocknet sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Nach einem einvernehmlichen Blickwechsel mit seinen Gästen sagt er: »Geschlossene Gesellschaft. Wir können Ihnen heute kein Essen servieren.«
    »Ich will auch nichts essen. Ich habe nur eine Frage.«
    Der Mann tut so, als hätte er mich nicht gehört, marschiert zur Tür und hält sie für mich auf. Dann weist er mit dem Kinn hinaus, mit eiskaltem Blick. »Guten Tag, Mademoiselle.«
    Verwirrt blicke ich die Männer an. Ihre abweisende Haltung ist in Amüsement umgeschlagen. Die scheinen das komisch zu finden. Dann sehe ich wieder den an, den ich für den Wirt dieses Lokals halte.
    »Geschlossene Gesellschaft, junge Frau«, wiederholt er und drängt mich mit einer ungeduldigen Handbewegung zum Gehen.
    Widerstrebend ziehe ich mich Schritt für Schritt zurück. Mit einem Knall fällt die Tür hinter mir ins Schloss.
    Ich hatte mit einer Lachsalve gerechnet, aber sie bleibt aus. Stattdessen herrscht eine unheimliche Stille. Auf dem Weg zum Auto habe ich das Gefühl, dass sich die Blicke der Männer in meinen Rücken bohren.

12
    Ich war neun, als ich mich zum ersten Mal in Schwierigkeiten brachte.
    Ich lag im Bett und lauschte der Stimme meiner Mutter. Sie rief in der Schule an, um mich krankzumelden. Obwohl sie ein Stockwerk unter mir stand, konnte ich sie reden hören – mit dem Rektor sehr wahrscheinlich, denn er war immer langatmig und fand nie ein Ende. Meine Mutter war sehr höflich und konnte ebenso schlecht ein Gespräch beenden, selbst am Telefon. Mehrmals hörte ich sie mit hoher Stimme sagen: »Also, bis dann und vielen Dank«, wonach eine kurze Stille folgte, meine Mutter plötzlich anfing zu lachen und das Gespräch weiterging.
    Den restlichen Vormittag über lauschte ich den Geräuschen ihrer täglichen Verrichtungen. Ich hörte sie auf und ab laufen, zur Toilette gehen, summen, staubsaugen, etwas in den Mülleimer werfen und das gespülte Geschirr wegräumen.
    Als die Schritte meiner Mutter schon fast ganz oben an der Treppe waren, schob ich schnell mein Donald-Duck - Heftchen unter mein Kissen, legte mich flach auf den Rücken und schloss die Augen.
    Ein wenig gequält runzelte ich die Stirn, wie meiner Vorstellung nach ein krankes Kind aussehen musste. Ein Kind, das zwar nicht so krank war, dass es zum Arzt musste, aber zu krank, um an diesem Tag

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