Verfallen
für diesen ursprünglichen Lebensstil haben, ich eher nicht.
Ich ziehe mir einen trockenen Kapuzenpullover über und will gerade meine Füße von den durchweichten Sneakers befreien, als ich draußen jemanden über den Hof gehen sehe.
Es ist ein etwa zehn Jahre alter Junge mit struppigen dunklen Haaren. Er macht einen ziellosen, etwas verlorenen Eindruck.
Ich öffne die Haustür. » Allo! «
Der Junge erschreckt sich sichtlich und will sich aus dem Staub machen.
»Warte!«, rufe ich. »Jetzt warte doch mal! Was willst du hier?«
Er hält inne. Vom Hangar aus kommt ein Hund angaloppiert und gesellt sich zu ihm. Der Junge nimmt ihn am Halsband und dreht sich zu mir um. Seine Augen werden von den dicken Brillengläsern verkleinert und strahlen leichten Argwohn aus, eine Zurückhaltung, die nicht zu seinem Alter passt. Aber charakteristisch für die Einheimischen hier ist , denke ich säuerlich.
»Suchst du Dianne?«, frage ich.
Er nickt schüchtern.
»Ich suche sie auch.«
Das scheint ihn einigermaßen zu beruhigen. Er lässt den Hund los, weiß nicht, wohin mit seinen Händen, und verschränkt sie schließlich vor dem Bauch.
»Wie heißt du?«
»Daniel.«
»Schöner Name. Ich heiße Eva.«
»Sie reden komisch.«
»Ich bin auch nicht von hier. Ich bin Niederländerin, genau wie Dianne.« Um ihn noch mehr zu beruhigen, setze ich mich auf die kleine Betonmauer an der Haustür. Nässe durchdringt den Stoff meiner Hose.
»Sind Sie eine Verwandte?«
Ich zögere einen Moment. Dann sage ich: »So ähnlich.«
Der Hund ist weniger scheu als sein Herrchen und drückt seine Schnauze an mich.
Ich streichle ihm über den Kopf, wobei eine Wolke kurzer, rauer Haare aufwirbelt. »Ist das dein Hund?«
»Nein. Einfach nur ein Hund. Ist Dianne nicht zu Hause?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein.«
Daniel weicht ein paar Schritte zurück. Er versucht, sich mir zu entziehen, und das will ich vermeiden.
»Kennst du Dianne gut?«, frage ich.
»Ich helfe ihr immer im Gemüsegarten. Meine Eltern erlauben das eigentlich nicht. Ich darf mich nicht mit Fremden einlassen. Aber Mademoiselle Dianne versteht nichts von Pflanzen, und wenn ihr niemand hilft, geht alles kaputt.«
»Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?«
Verlegen zuckt er mit den Schultern. »Letzte Woche.« Sein Blick wandert in Richtung des Hangars. »Ich sollte den größten Kürbis bekommen. Den größten und schwersten. Das hat sie mir versprochen, aber am nächsten Tag war sie weg.«
»An welchem Tag?«
Wieder ein Achselzucken, aber keine Antwort.
Ist dieser Zehnjährige etwa einer der »inspirierenden neuen Freunde«, die Dianne hier angeblich gewonnen hat?
Ich kämpfe gegen den Impuls an, ihn durchzuschütteln. Der kleine Junge erinnert mich an ein wildes Tier, das sich instinktiv seine Fluchtwege offenhalten will. Er würde in Panik geraten, wenn ich Druck auf ihn ausübte. Ich sollte lieber versuchen, sein Vertrauen zu gewinnen.
Ich folge seinem Blick. »Kürbisse? Wo wachsen die denn?«
»Im Gemüsegarten. Hinter dem Hangar.«
»Sollen wir dann mal einen für dich aussuchen?«
Gleich hellt sich sein Gesicht auf. »Erlaubt Mademoiselle Dianne das denn?«
»Natürlich erlaubt sie das!«
Diannes Gemüsegarten befindet sich auf einem flachen Stück Land dicht neben dem Stoppelfeld. Von Weitem hatte ich die Beete nicht als solche erkannt, doch jetzt sehe ich die gelben und dunkelorangefarbenen Kürbisse auf der Erde zwischen dem üppig wuchernden Unkraut leuchten. Neben diesem Beet ziehen sich Reihen schief weggesackter Bambusstöcke entlang, an denen die verschiedensten Gemüsepflanzen hochgebunden sind. Die Früchte sind von den Stängeln gefallen und verfaulen. Schimmelige Tomaten. Angefressene, halb verfaulte Paprikaschoten.
Bei unserer Ankunft schrecken wir drei Krähen auf, die in einem weiten Bogen über den Acker davonfliegen. In der Ferne lassen sie sich als dunkle Punkte im Wald nieder, ein düsterer Streifen, der alles Licht aus der Landschaft zu absorbieren scheint.
»Wohnt dort im Wald jemand?«, frage ich.
Daniel schüttelt den Kopf.
»Ich habe heute Nacht da drüben Licht gesehen.«
Das scheint ihn nicht weiter zu wundern. »Da hinten liegt eine Jagdhütte. Vielleicht haben die Männer Füchse gejagt. Gut so. Scheißviecher.« Sein Blick hinter den Brillengläsern verhärtet sich. »Neulich hat ein Fuchs allen unseren Hühnern die Köpfe abgebissen. Allen! Meine Mutter hatte kein einziges mehr übrig.«
»Wohnt jemand in
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