Verfallen
zu werden, hat nicht nachgelassen, sondern ist sogar noch stärker geworden, seit es mich eben im Gemüsegarten zum ersten Mal überkam.
Bilde ich mir etwas ein? Lasse ich mich zu sehr von der herbstlichen Atmosphäre dieses einsamen Landstrichs beeinflussen? Von dem Nebel, der bis zum späten Vormittag über den trostlosen, nassen Feldern liegt, den endlosen Wäldern, dem verwahrlosten Haus und den scheuen Dorfbewohnern? Nein, nicht scheu, dafür waren ihre Blicke zu unverschämt. Die schweigsamen, zähen Männer in der Kneipe haben regelrecht feindselig gewirkt.
Eine nervöse Energie treibt ich mich an, als ich das offene Feld hinter mir lasse und auf einem kaum erkennbaren Weg zwischen Brombeersträuchern hindurch den Wald betrete. Je weiter ich mich von dem Haus und dem Acker entferne, desto nichtiger und eingeschlossener fühle ich mich. Alle zehn, elf Schritte bleibe ich stehen und vergewissere mich, dass ich den Pfad auf dem Rückweg noch erkennen werde.
Durch die Nadelbäume dringt kaum Tageslicht. Lange hellgraue, von den Zweigen gefilterte Sonnenstrahlen fallen hoch über meinem Kopf durch die Baumkronen. Sie erhellen die Wipfel, haben aber kaum genügend Kraft, es bis zum humusreichen Boden zu schaffen.
Die Jagdhütte liegt nicht tief im Wald. Umgeben von Unterholz und flankiert von Tannen erhebt sich ein kleines Gebäude mit Flachdach, eine Mischung aus Standwohnwagen und Schiffscontainer, zusammengeschustert aus den verschiedensten Materialien, von Brettern über Plastikplatten bis hin zu Presspappe. Auf der rechten Seite befindet sich eine Eingangstür mit einem Fliegengitterfenster. Über die ganze Breite zieht sich ein mit Tarnstoff bespanntes Vordach.
An einen der Bäume neben der Hütte ist ein rotes Schild genagelt, auf dem in fetten weißen Buchstaben CHASSE PRIVÉE – VORSICHT , JAGD – steht.
In der Hütte sind Leute. Ich höre sie reden, ihre Stimmen dringen gedämpft durch die Wände. Für einen Moment zögere ich, bleibe stehen und lausche heimlich. Ich kann nicht genau verstehen, was sie sagen, aber die Gesprächsfetzen, die ich auffange, klingen für mich nach allgemeinem Geplauder und durchaus ungefährlich.
Ich nähere mich der Hütte und klopfe an die Tür.
Ein paar Sekunden lang herrscht Stille, dann poltert eine laute, tiefe Männerstimme: » Entrez? «
Ich öffne die Tür und betrete die Hütte. Drinnen ist es muffig und riecht nach Alkohol, Öl und Zigaretten. Rund um einen Gartentisch sitzen drei Männer. Einer von ihnen ist Diannes Nachbar, Régis Beau. Ich erkenne ihn sofort an seiner ledrigen Haut und seinem gedrungenen Körperbau. Daniel könnte tatsächlich sein Sohn sein. Die anderen beiden Männer habe ich heute Morgen in der Kneipe gesehen. Sie tragen noch immer dieselbe Kleidung.
Einer von ihnen legt seine schwielige Hand auf eine Waffe, eine klassisch aussehende Flinte mit einem Kolben aus Holz, die v-förmig aufgeklappt vor ihm auf dem Tisch liegt. Ohne die Augen von mir abzuwenden schließt er die Waffe mit einem Klicken und legt sie mit dem Lauf auf mich gerichtet wieder hin.
Erschrocken sehe ich ihn an.
Halb gereizt, halb amüsiert erwidert er meinen Blick. Er hat dunkle Augen und einen kantigen Unterkiefer – er wäre attraktiv, wenn seine Nase nicht einem achtlos ins Gesicht gedrückten Lehmklumpen gleichen würde.
»Das ist Privatgelände«, sagt Régis Beau.
»Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie gestört habe.« Das Herz klopft mir bis zum Hals. Am liebsten wäre ich davongelaufen, aber ich wehre mich dagegen, meine Angst offen zu zeigen. Diesen Triumph gönne ich ihnen nicht.
Der andere Kneipengast zieht ein letztes Mal an seiner Zigarette und drückt die Kippe in einem übervollen Aschenbecher aus. Er ist jünger als seine Freunde, wahrscheinlich kaum älter als ich, hat kurze schwarze Haare und eine Tätowierung auf dem inneren Unterarm.
»Ich war nur neugierig«, füge ich hinzu. »Ich wollte …«
»Wieder was klauen?«, unterbricht mich Beau.
»Klauen?« Ich starre den Gewehrlauf und den grimmigen Gesichtsausdruck des Besitzers an, dessen Hand noch immer auf der Waffe liegt.
Er starrt mich unverwandt an. »Als ob sie das zugeben würde.«
»Klauen?«, wiederhole ich. »Also wirklich, ich … Was soll das heißen?« Ich starre von einem zum anderen. Warum diese Feindseligkeit? Mir fällt keine Gegenrede ein, und ich wage es auch nicht mehr, irgendwas zu sagen.
Ich spüre ein akutes Bedürfnis zu flüchten, wegzurennen, so schnell
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