Verfallen
der Hütte?«
Er sieht mich an, als hätte ich sie nicht alle. »Es ist eine Jagdhütte.«
Fasziniert starre ich weiterhin zum Waldrand hinüber. »Übernachtet dort manchmal jemand?«
» J’sais pas. Vielleicht. Sind Sie sicher, dass wir einfach so etwas aus Mademoiselle Diannes Gemüsegarten wegnehmen dürfen?«
»Ja, ganz sicher. Such dir einen aus.«
»Den Orangenen da, bitte«, sagt er, ohne zu zögern.
Meine Sneaker versinken fast bis zu den Knöcheln im Dreck. Diannes Kürbisse gleichen nicht den Früchten, die ich kenne, sondern sehen eher aus wie zu groß geratene Zucchini. »Dieser da?«
Daniel nickt eifrig. Als ich das Unkraut von dem Kürbis wegziehe, sagt er: »Die Leute reden über Sie.«
Ich richte mich wieder auf. »Über mich?«
Er nickt.
»Was reden sie denn so?«
» Des choses – Sachen halt …«
»Was für Sachen?«
»Dass Sie im Haus von Mademoiselle Dianne wohnen.« Der Junge blickt jetzt zu Boden. »Und dass Sie sich in Dinge einmischen, die Sie nichts angehen.«
Einmischen? Ich versuche zu lächeln, aber es wird nur eine verwirrte Grimasse daraus. »Mache ich denn etwas falsch?«
Sein Blick ist noch immer auf den Boden gerichtet. Er zuckt mit den Schultern. »Weiß nicht.«
»Ich versuche herauszufinden, wo meine Freundin Dianne ist. Das hat doch nichts mit ›einmischen‹ zu tun?«
Schweigen.
Ich lasse meinen Zorn an der Pflanze aus. Der haarige, fast fingerdicke Stängel will seine Frucht nicht kampflos hergeben. Ich stelle den Fuß darauf und reiße den Kürbis mit beiden Händen ab. Er muss mindestens zwei Kilo wiegen.
Keuchend reiche ich ihn Daniel. »Hier, bitte.«
Er umklammert seine Beute mit beiden Armen, dreht sich um und geht zurück in Richtung Hof, dicht gefolgt von dem struppigen Hund.
»Willst du schon gehen?«, rufe ich ihm hinterher.
Schweigend läuft der Junge weiter, den Kopf schützend zwischen die Schultern gezogen. Er erinnert mich an eine Schildkröte, die auf den Hinterbeinen läuft.
»Kommst du morgen wieder? Daniel?«
»Ja, Mademoiselle . «
»Versprochen?«
» Promis! «, ruft er gegen den Wind. Zusammen mit seinem Hund und dem Kürbis verschwindet er hinter der Scheune aus meinem Blickfeld.
Mir fällt ein, dass ich ihn nicht gefragt habe, wo er wohnt, aber da er zu Fuß ist, kann es nicht weit weg sein. Vielleicht ist er sogar der Sohn dieser schrecklichen Leute, die mich heute Mittag von ihrem Hof komplimentiert haben, Diannes Nachbarn: die Familie Beau. Könnte sein. Der Mann war genauso massiv gebaut, mit genau demselben kurzen Hals.
Aber dasselbe galt für die Stammgäste der Dorfkneipe.
Warum ich plötzlich das Gefühl habe, beobachtet zu werden, weiß ich nicht. Es überfällt mich ganz plötzlich. Um mir nichts anmerken zu lassen, blicke ich am Hangar vorbei zum Haus, als genieße ich meinen Aufenthalt im Freien und als atme ich die feuchte Herbstluft tief ein.
Vom Feld her huscht ein flinker Schatten in meine Richtung. Ich erstarre vor Schreck, bis ich sehe, dass es eine Katze ist. Sie kommt näher, schnüffelt mit angelegten Ohren an meiner Hose und drückt dann den Kopf fest an meine Wade – es fühlt sich an wie ein Kopfstoß. Es ist die Katze von heute Morgen, ich erkenne sie an ihrer unregelmäßigen Blesse. Jetzt sehe ich auch, dass ihre Ohren an den Rändern zerfetzt sind.
»Na, Gruselchen, bist du auch wieder da?«
Der Kater sieht mich voller Bewunderung an, und ich höre ihn schnurrend ein- und ausatmen. Vorsichtig, nur mit den Fingerspitzen, kraule ich ihn zwischen den Ohren. Viel näher werden wir uns nicht kommen, befürchte ich. Wenn ich Pech habe, laufe ich schon allein wegen dieser kleinen Annäherung den ganzen Tag mit triefender, roter Nase und tränenden Augen herum.
Ich stehe auf und ziehe den Pulli über die Hüften. Werfe einen verstohlenen Blick hinüber zum Wald.
Jäger.
Ich habe heute Nacht keine Schüsse gehört.
14
Der Wald liegt zwar nicht weit von Diannes Gemüsegarten entfernt, aber auf dem leicht abfallenden Ackerland erschweren harte Lehmklumpen, glitschiger Schlamm und Steine das Gehen.
Meine leichten Turnschuhe sind für die schwierigen Bodenverhältnisse nicht geeignet. Sollte ich länger hierbleiben, werde ich mir ein Paar Bergschuhe oder Stiefel kaufen müssen.
Vielleicht auch etwas anderes, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Etwas, womit ich mich verteidigen kann. Mein ganzes Leben lang habe ich in der Stadt gewohnt und nie dieses Bedürfnis verspürt. Das Gefühl, beobachtet
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