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Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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wie möglich, solange ich noch kann.
    »Na, dann geh mal ganz schnell wieder dahin zurück, wo du hergekommen bist«, höre ich den Tattootypen sagen, als könne er Gedanken lesen.
    »Nicht so unhöflich, Christoph … Vielleicht möchte sie gerne bleiben?«, raunt der Mann mit der Waffe anzüglich und mustert ungeniert meinen Körper.
    »Ich bitte nochmals um Entschuldigung«, stammle ich. Ich vermute, dass sie mich nur einschüchtern wollen, mich ärgern, aber ich wage es nicht, das Risiko einzugehen, den Männern und dem Gewehrlauf den Rücken zuzukehren.
    Ohne mich umzublicken, ziehe ich mich rückwärts zur Tür zurück, und als ich schließlich draußen stehe, schlage ich sie viel heftiger zu als geplant.
    Dann laufe ich los.

15
    Im Haus war es still. Meine Mutter war schon vor einer ganzen Weile gegangen, und das Donald-Duck-Heft hatte ich ausgelesen – jede einzelne Seite, sogar die Leserbriefe, die ich in letzter Zeit übersprungen hatte, weil sowieso immer dasselbe drinstand.
    Ich kniete mich auf das Bett, stützte die Ellenbogen auf das Fensterbrett und starrte nach draußen. Ein Schwarm Brieftauben drehte über unserem Viertel seine Runden. Die orangefarbenen Dächer der Häuserreihen hinter uns hoben sich leuchtend vor dem Himmel ab. Aus manchen Schornsteinen stieg Rauch.
    Ich drückte die Nase gegen die kalte Scheibe und blickte in die Gärten der Nachbarn mit ihren Wäscheleinen, Vogelhäuschen und Gartenschuppen. Viel gab es nicht zu sehen. Einen Tag die Schule zu schwänzen und zu Hause zu bleiben war mir verlockend erschienen, aber an so einem ganz normalen Wochentag sah unser Viertel genauso aus wie immer. Es war nur stiller. Todlangweilig.
    Ich stand auf und ging hinunter, öffnete die Tür zum Kriechkeller und holte eine Blechdose unter einem Brett hervor. Ich hob den Deckel ab und sah hinein. Japanischer Knabbermix und Erdnüsse. Keine Käsechips.
    Plötzlich kam mir eine Idee. Ich rannte die Treppe hinauf, zog eine weite Hose über den Schlafanzug und schlüpfte in einen Strickpullover. Anschließend pulte ich den Deckel am Bauch meines Keramiksparschweins auf und schüttelte es. Ein Haufen Münzen fiel in eine Kuhle meines Deckbetts. Ich klaubte ein Zweieinhalbguldenstück heraus, steckte den Rest wieder in den rosafarbenen Bauch des Schweinchens und rannte die Treppe hinunter.
    Ich sah auf die Wohnzimmeruhr, eine glänzende Pendeluhr, die schon so lange ich denken konnte neben den gerahmten Schulfotos von mir und meinen Brüdern auf dem Büfett stand. Die goldfarbenen Zeiger standen auf halb eins.
    Meine Mutter würde nichts bemerken. Bis sie nach Hause kam, war ich längst wieder da.
    Ganz einfach.
    Trotzdem war ich nervös.
    Ich zog Stiefel und meine Winterjacke an. Durch die Aufregung vergaß ich meinen Schal. Vorsichtig öffnete ich die Haustür. Sie klemmte stark; um sie ins Schloss zu ziehen, musste ich mich mit meinem ganzen Gewicht an den Türknauf hängen. Genau das musste ich jetzt vermeiden. Die Tür durfte nicht zuschlagen, denn ich hatte keinen Schlüssel.
    Wie eine Diebin blickte ich mich nach rechts und links um. Auf der Straße war keine Menschenseele zu sehen, und von den Nachbarn saß keiner neugierig am Fenster. Ich zog die Tür so weit hinter mir zu, dass es von der Straße aus wirkte, als sei sie geschlossen.
    Danach verschwand ich im Labyrinth der Brandschutzgänge hinter den Häusern, in schnellem Lauf, die Münze fest umklammert.

16
    Der Morgen kündigt sich grau in grau an. Regen trommelt gegen die Scheibe des Schlafzimmerfensters, und bei jedem Windstoß zittert das Glas in den Fugen.
    Ich habe mich unter den Decken und dem Überwurf verschanzt. Auf der Tagesdecke liegt eine französische Zeitschrift von Dianne. Ich habe kaum darin gelesen. Durchgeschlafen habe ich genauso wenig. Das geringste Geräusch ließ mich aufschrecken, und Geräusche gab es in der Nacht genug. Die meisten stammten von Tieren, aber ehe ich das registriert hatte, saß ich schon aufrecht und schreckensstarr im Bett und lauschte meinem eigenen Herzschlag.
    Ich meine, dass ich eine Katze miauen hörte, ein kläglicher Schrei schien mir im Nachhinein der eines Raubvogels zu sein, und in der Ferne heulte ein Rudel Hunde mit kurzen Unterbrechungen die ganze Nacht über.
    Jetzt ist es neun Uhr. Große Lust zum Aufstehen habe ich nicht. Im Haus ist es eiskalt; der Ofen wird wohl wieder ausgegangen sein. Ich versinke in Selbstmitleid, fühle mich krank und antriebslos. Ich vermute, das kommt von

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