Verfallen
Freitagabend in die Kneipe gingen.
»Ein bisschen jung«, antwortete sie.
»Howie Dorough, Backstreet Boys.«
»Hm, kann schon sein.«
»Aber guck doch mal! Er sieht ihm wirklich ähnlich.«
Genervt sah sie mich an. »Eef … Ich finde das allmählich ein bisschen oberflächlich. Kindisch. Wenn ich jetzt auch noch diese Bubis von den Backstreet Boys kennen soll und wissen soll, wie sie alle heißen …«
Ihre Reaktion traf mich wie ein Hammerschlag. Ich empfand sie als persönliche Zurückweisung – als fände Dianne nicht etwa unser Spiel, sondern mich plötzlich zu kindisch. Später gab ich ihr insgeheim recht. Wir waren siebzehn und neunzehn, viel zu alt für alberne Doppelgängerspielchen. Und vor allem für die Backstreet Boys.
Draußen hat sich eine lange Schlange von Autos mit brummenden Motoren vor dem Drive-in-Schalter gebildet, und auch das Restaurant füllt sich allmählich. Eine Gruppe Jugendlicher hat die PC s links und rechts von mir in Beschlag genommen. Ihr Geschrei stört mich beim Nachdenken.
Ich werfe den Kaffeebecher in den Mülleimer und gehe hinaus auf den Parkplatz. Es ist erst zwanzig nach zwölf, und die Restaurants öffnen nicht vor sieben. Wie soll ich bloß den restlichen Tag überstehen? In Diannes Haus möchte ich mich nicht aufhalten, solange sie nicht da ist. Ob sie heute schon nach Hause kommt? Oder morgen erst?
Angenommen, sie hat unsere Verabredung vergessen?
Der Gedanke, zurück in die Niederlande zu fahren, erscheint mir plötzlich ziemlich verführerisch, doch als ich am Steuer sitze, reiße ich mich zusammen. Wer weiß, ob Dianne nicht schon längst in Le Paradis auf mich wartet?
Um Punkt zwei Uhr parke ich mein Auto auf dem Hof. In der Einkaufstasche, die ich vom Beifahrersitz hebe, steckt viel mehr, als ich eigentlich brauche. Neben Milch, Zucker und Brot sind auch kleine französische Käse, Erdnüsse, M&M’s und eine Tüte Baisers darin. Trostessen.
Auf dem Weg zum Haus werfe ich unwillkürlich einen raschen Blick über die Schulter. Feld und Wald scheinen verlassen, aber ich weiß inzwischen, dass dieser Anblick trügerisch sein kann. Ob die Jäger wieder in ihrer heruntergekommenen Hütte sitzen? Oder liegen sie irgendwo dahinten in den Sträuchern und beobachten mich?
Das unheimliche Gefühl wird stärker, als ich das Haus umrunde.
Ich hole den Schlüssel aus der Gießkanne, straffe den Rücken und eile zur Hintertür.
Auf halbem Wege bleibe ich wie angewurzelt stehen.
Die Tasche mit den Einkäufen rutscht mir aus der Hand und fällt neben mir zu Boden.
Auf dem Zementabsatz vor der Hintertür glitzert etwas. Glas, das heute Morgen noch nicht da war. Scherben.
Rasch blicke ich mich nach allen Seiten um, zum Waldrand, der in meiner Abwesenheit näher herangekrochen zu sein scheint, zum Wall mit dem aufgestapelten Feuerholz, auf dem die Abdeckplane im Wind raschelt, zum schmalen Durchgang zwischen Haus und Scheune und wieder zurück zur Hintertür.
Ganz vorsichtig gehe ich weiter, auf jede Bewegung, jedes Geräusch achtend. Vor der Hintertür bleibe ich entsetzt stehen.
Die Scheibe ist kaputt. Sie wurde eingetreten oder eingeschlagen. In der Fassung stecken nur noch ein paar spitze Splitter. Ich bücke mich und schaue hinein. Die ganze Küche ist mit Glasscherben und -splittern übersät.
18
Vom Studium her erinnere ich mich, dass fast jedes kleine Dorf in Frankreich seine eigene Polizeidienststelle hat, bei der sich die Bewohner jederzeit melden können. Bis 1993 war das in den Niederlanden ebenso. Danach wurden diese vielen kleinen Dienststellen ein Opfer von Sparmaßnahmen. Sie mussten schließen, und das Erstatten einer einfachen Anzeige wurde zu einer schier unmöglichen Mission.
Zwischen dem ehemaligen niederländischen und dem französischen System besteht jedoch ein eklatanter Unterschied: In den Städten ist in Frankreich die Police Nationale zuständig, die Landespolizei, während auf dem Land und in kleinen Orten die Gendarmerie Nationale das Sagen hat. Dabei handelt es sich streng genommen nicht um eine Polizeibehörde, sondern um eine militärische Organisation, die in den dünn besiedelten Gebieten die Aufgaben der Polizei wahrnimmt.
Die Dienststelle, an die ich mich wenden muss, liegt in einer Seitenstraße, die von der Hauptstraße abzweigt. Das Gebäude sieht aus wie alle anderen im Dorfkern: beige verputzt, mit Holzfensterläden, von denen die Farbe größtenteils abgeblättert ist. Die Tür knarrt laut, als ich sie öffne. Sie
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