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Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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der Anspannung, in Verbindung mit der feuchten Kälte.
    Ich drehe mich um und ziehe mir die Decke bis unters Kinn. Gestern Abend war die Versuchung groß gewesen, die Flasche Bacardi mit nach oben zu nehmen, aber ich bin standhaft geblieben. Noch steht sie versiegelt und unversehrt auf der Küchenanrichte und wartet auf bessere Zeiten. Obwohl ich nicht glaube, dass die so bald anbrechen. Sämtliche Vorstellungen, die ich mir über diese Gegend, mein Wiedersehen mit Dianne und den Urlaub gemacht habe, haben sich als Hirngespinste erwiesen.
    Ich bin erst seit drei Tagen in Le Paradis und kann jetzt schon kaum glauben, dass Dianne hier tatsächlich ihre Zukunft sieht. Liegt das an meiner mangelnden Vorstellungskraft, oder macht sie sich etwas vor?
    Was in Gottes Namen glaubte Dianne hier zu finden?
    Und was hast du tatsächlich gefunden, Dianne?
    Oder … was hat dich gefunden?
    Unwillkürlich fahre ich mit den Fingerspitzen über meine Handfläche. Dort fühle ich einen Wulst, eine Verdickung, eine unregelmäßige Linie, etwa einen Millimeter breit und drei Zentimeter lang. Eine Narbe, die mir viel bedeutet.
    Minutenlang liege ich auf dem Rücken und starre die Decke an, lausche dem Wind und dem Regen und denke an meine kurzen Begegnungen mit den Dorfbewohnern und den Jägern zurück. Schon allein der Gedanke an ihre feindseligen Blicke verursacht bei mir eine Gänsehaut. Ich erinnere mich an einen Zeitungsartikel, in dem behauptet wurde, Bergbewohner seien im Allgemeinen verschlossen, auf sich und ihre Gemeinschaft konzentriert und stünden von Natur aus jeder Einmischung von außen skeptisch gegenüber. Niederländern, die in Berggebiete auswanderten, falle die Integration dadurch schwerer als Landsleuten, die ihr Glück im Flachland oder in hügeligen Gebieten versuchten.
    Als Berglandschaft würde ich diese Gegend nicht bezeichnen, doch die Hügel gehören zu den Ausläufern der Pyrenäen, und es gibt hier zahlreiche Felsen und Höhlen.
    Doch ob Berge oder nicht: Der Charakter der Einheimischen scheint mir jedenfalls genauso unzugänglich wie ihre Umwelt, in der sie leben – mürrisch, abweisend, kalt und finster.
    Gleich und Gleich gesellt sich gern.
    Ich schlage die Decken zurück, stelle die Füße neben das Bett und stehe auf.
    Auf Zehenspitzen gehe ich ins Bad und drehe schon mal den Wasserhahn in der Dusche auf. Es dauert ewig, bis das Wasser warm wird. Am Waschbecken putze ich mir die Zähne und schaue in den schwarzfleckigen Spiegel. Mein Gesicht ist blass und eingefallen, und ich entdecke Sorgenfalten, die ich nie zuvor gesehen habe.
    Ich binde meine Haare hoch und stelle mich unter den heißen Wasserstrahl. Der aufwallende Chlorgeruch erinnert mich an den Schwimmunterricht im Stadtbad. Schon damals hat das Chlor meine Augen gereizt.
    Ich steige aus der Dusche, nehme ein Handtuch vom Waschbecken und trockne mich ab. Ob Chlor oder nicht, Duschen hilft mir immer, in die Gänge zu kommen. Selbst jetzt.
    Vielleicht sollte ich noch einmal bei Diannes Mutter anrufen und fragen, ob sie etwas Neues erfahren hat. Von Diannes Freundinnen habe ich keine Telefonnummern. Obwohl wir dasselbe Fach studiert haben, überschneiden sich unsere Freundeskreise nicht.
    Ich ziehe mich an, trage ein wenig Wimperntusche auf und binde mein Haar zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammen.
    Als ich die Treppe hinunterlaufe, kondensiert mein Atem. Noch ist mir warm von der heißen Dusche, aber wenn ich jetzt nicht schnell etwas unternehme, zittere ich in einer halben Stunde wieder wie Espenlaub.
    Tatsächlich ist der Ofen über Nacht ausgegangen, obwohl ich noch ein paar Scheite Holz nachgelegt hatte. Ich knie mich vor die Öffnung, breche einen Streifen Schnellanzünderwürfel ab und lege sie auf den Ofenrost. Ascheflocken wirbeln auf. Ich stelle drei schwarz angekohlte Holzscheite zu einem Dreieck zusammen wie einen Wigwam und halte ein Streichholz an die Schnellanzünder, in der Hoffnung, dass es diesmal klappen wird. Das Türchen schleift, als ich es schließe.
    Ich bleibe einen Moment sitzen und blicke mich im spartanischen Inneren des Hauses um. Dianne hat weder Fernsehen noch Radio, nichts, was ein wenig Ablenkung bietet.
    Die Trostlosigkeit und die Stille verursachen mir Beklemmungen. Ich müsste aufstehen, pfeifend in die Küche gehen und Wasser für Kaffee aufsetzen, aber ich verspüre nur Widerwillen.
    Ich habe den ekligen Instantkaffee satt.
    Und dieses kalte, garstige Haus.
    Die feindselige Atmosphäre, die diese Gegend

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