Verfallen
charakterisiert.
Ich will hier nicht sein. Ich will raus. Ich muss hier weg. Und wenn nur für ein paar Stunden.
Ich lasse das angefachte Feuer brennen, nehme meinen Mantel vom Sofa und gehe hinaus.
Der Haustürschlüssel fällt mit einem metallischen Klappern auf den Boden der Gießkanne, und ich eile zu meinem Auto.
17
Der McDonald’s liegt an einer Autobahnausfahrt etwas über dreißig Kilometer von Diannes Haus entfernt. Das bunte, niedrige Gebäude ist von weiteren billigen Schnellrestaurants – Courtepaille, Quick, Buffalo Grill – und ausgedehnten Parkplätzen umgeben, die zu dieser frühen Stunde nicht mal zu einem Fünftel besetzt sind. Um die Mittagszeit wird sich das vermutlich ändern. Der Kaffee schmeckt köstlich, ebenso wie das Big-Mac-Menü, das ich soeben vertilgt habe. Um mich zu verwöhnen, habe ich mir ein Eis dazu gegönnt. Keinen Salat – ich habe in den letzten Tagen genug Grünzeug gesehen.
Meine Laune hat sich erheblich gebessert. Wie wunderbar, unter Leuten zu sein, auch wenn ich hier niemanden kenne. Auf jeden Fall bin ich weg von der nebligen Landschaft, den stechenden Blicken, dem Argwohn und dem ständigen Gefühl, auf der Hut sein zu müssen.
An der Glaswand neben den Schiebetüren stehen Computer. Ich nehme meinen Kaffee mit und setze mich auf einen der Hocker. Wenige Sekunden später bin ich mit meiner Existenz in den Niederlanden verbunden.
Wie erwartet ist keine E-Mail von Dianne angekommen. Ich beschließe, Deborah und Ilse zu schreiben, mit denen Dianne sich vor ihrer Emigration nach Frankreich regelmäßig traf. Ihre Nachnamen weiß ich nicht, aber über Vornamen, Alter und Wohnort stoße ich auf die Hyves-Seite von Deborah und ein ungepflegtes Profil von Ilse auf Facebook. Ich bitte die beiden, mich anzurufen oder mir eine SMS zu schicken, falls sie wissen, wo sich Dianne aufhält.
Auf meiner eigenen Hyves-Seite möchte eine Ex-Kollegin sich unter meine Freunde einreihen. Ich füge sie, ohne nachzudenken, hinzu. Nach den gestrigen Erlebnissen freue ich mich über jede Form von Interesse.
Doch meine Dankbarkeit hat durchaus Grenzen. Im Posteingang wartet eine Mail von Evert, einem Layouter der Zeitung, dem ich auf Partys und in Aufzügen tunlichst nie den Rücken zukehrte. Evert ist der Doppelgänger von Steve Buscemi in seiner Rolle als Tony bei den Sopranos . Er fragt mich, ob ich nicht freiberuflich arbeiten wolle. Wenn ja, könne er mir einen interessanten Auftrag verschaffen. Na klar. Er schließt mit »alles Liebe, Evert« und seiner Privatnummer. Ich lösche die Mail.
Evert erinnert mich an früher. Dianne und ich machten uns lange Zeit einen Spaß daraus, Leute nach ihrer Ähnlichkeit mit berühmten Personen zu charakterisieren. Es begann damit, dass sich Diannes Mutter eines Tages einen Schal um den Kopf wand und damit so frappierend Susan Sarandon in Thelma und Louise glich, dass es niemandem entgehen konnte. Aber sie war nicht die einzige Prominente in unserer unmittelbaren Umgebung. Diannes Stiefvater erwies sich als regelrechter Klon von Anthony Head in der Rolle des Giles in Buffy im Bann der Dämonen, und mein Vater besaß große Ähnlichkeit mit Jim Carrey, nur dass es mit ihm weniger zu lachen gab und sein Haar kürzer war. Auffällig viele Frauen in unserer Straße glichen Roseanne Barr. Jeder wurde von uns kichernd an der Prominenten-Latte gemessen: Lehrer, Tanten, zufällige Passanten.
Unsere eigenen, persönlichen Doppelgänger wechselten ständig, passend zu unseren jeweiligen Frisuren und Stimmungen. Dianne ähnelte meist Sinéad O’Connor, und je mehr die Jahre vergingen, desto größer wurde diese Ähnlichkeit.
»Kate Winslet in Titanic !«, rief ich, als ich ihr das Resultat einer kastanienbraunen Tönung vorführte.
Sie lachte. »Nie und nimmer!«
Wir machten uns einen regelrechten Sport daraus, so viele Stars und Sternchen wie möglich zu kennen, weil dadurch die Chancen umso besser standen, jederzeit einen treffenden Doppelgänger aus dem Ärmel schütteln zu können. Dianne war zwar älter und meist viel ehrgeiziger als ich, aber auf diesem Gebiet waren wir ebenbürtig. Ich war einfach gut darin und bin es noch immer. Einzelheiten, die anderen entgehen, fallen mir auf, und ich vergesse sie selten. Das kann ein Gesicht sein, eine bestimmte Körperhaltung oder eine gewisse Art zu gehen.
Doch in dem Jahr, als ich siebzehn wurde, endete unser Spiel abrupt.
»Hast du den Typen gesehen?«, fragte ich, als wir an unserem festen
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